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KI im Journalismus – Algorithmen machen Nachrichten

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Tassilo Hummel und Jan Karon
Jan Karon (links) und Tassilo Hummel (Foto: Tassilo Hummel / Jan Karon)
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Die Digitalisierung hat den Journalismus erfasst. Nachrichtenredakteure und Journalistinnen werden entlassen, Softwareprogramme sollen ihren Job erledigen. Das ist billiger. Aber auch genauso gut?

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Themenauswahl: Was bringt die meisten Klicks?

Microsoft kam mit seiner Nachrichtenplattform MSN im Frühjahr 2020 zu dem Schluss, dass journalistische Tätigkeiten auch von einem Algorithmus erledigt werden können. Dieser, so das Kalkül, könne durch Massenauswertung von sozialen Medien sogar besser als menschliche Redakteure erkennen, welche Themen gerade die meisten Klicks bekommen. Die Inhalte wählt der Algorithmus künftig selbständig aus, verziert sie mit einem Foto – und fertig ist der MSN-Artikel.

Allein in Berlin verloren elf Redakteurinnen und Redakteure sowie fünf Freelancer ihren Arbeitsplatz. Durch den Fall MSN erfuhr die breite Öffentlichkeit erstmals, dass auch in Deutschland ausgebildete Journalistinnen und Journalisten ersetzt werden – durch Algorithmen.

„Speed-Journalismus“ – für Vorteile im Börsengeschäft

Finanznachrichten-Agenturen verdienen viel Geld, wenn sie die News schneller als die Konkurrenz bekommen. Denn dann haben ihre Kunden einen Informationsvorsprung und können an der Börse kaufen oder verkaufen, bevor ihre Widersacher ebenfalls von den neuesten Entwicklungen Wind bekommen. Das hat einen neuen, sehr spezialisierten Bereich des Journalismus geschaffen: „den Speed-Journalismus“.

In den Newsrooms der Agenturen sitzen „Speed-Reporterinnen“. Auf Bildschirmen laufen E-Mail-Posteingänge, Twitter-Kanäle, Fernsehsender, Aktienkurse und sich ständig aktualisierende Newsticker hoch und runter. Hochkonzentriert starren die Journalisten auf die Screens vor ihnen. Ähnlich wie Fluglotsinnen arbeiten sie in Schichten, wechseln sich ab.

Das Ziel: Sobald irgendwo eine wichtige Nachricht aufploppt – zum Beispiel in einer Pressemitteilung oder in einem Tweet –, müssen die Speed-Reporter blitzschnell berichten. Im Sekundentakt treffen potenzielle Nachrichten ein. Warntöne, die auf bestimmte Stichworte programmiert sind, vermitteln den Reporterinnen, wohin sie ihre Aufmerksamkeit lenken sollen. Und zwar blitzschnell, in Millisekunden kann eine Information ihren Wert verlieren.

Lupe vor Bildschirm mit msn-Logo, dem Nachrichtenportal von Microsoft (Foto: IMAGO, imago/Schöning)
Nachrichten auf dem Portal MSN von Microsoft werden seit 2020 von einem Algorithmus geschrieben

Statistische Wirtschaftsdaten: autonom von Computerprogrammen publiziert

Durch sogenanntes “High Frequency Trading”, also Wertpapierhandel innerhalb von Sekundenbruchteilen, lesen nicht mehr nur Menschen mit, sondern auch Maschinen. Diese können per Texterkennung selbständig Nachrichten auswerten und Kaufentscheidungen treffen.

Um Zeit zu gewinnen, werden bei Finanznachrichtenagenturen wie Bloomberg und Reuters viele Nachrichten, in denen es vor allem um Zahlen wie Gewinne und Verluste oder statistische Wirtschaftsdaten geht, komplett autonom von Computerprogrammen publiziert. Wenn Unternehmen oder Behörden am Morgen neue Statistiken bekannt geben, treffen sie bei den Agenturen auf automatisierte Systeme.

Die sind so programmiert, dass sie auf einer Website oder in per E-Mail verschickten Pressemitteilungen und Geschäftsberichten selbst nach den entscheidenden Stichworten und Informationen suchen. Diese Stichworte fügen sie völlig selbständig in vorgefertigte Meldungen ein. Einige Nachrichten von Reuters und Bloomberg werden veröffentlicht, ohne dass ein menschlicher Reporter sie schreibt oder eine Redakteurin noch einmal drüber schaut.

Wer übernimmt Verantwortung für falsche automatisierte Nachrichten?

Auch wenn die Geschwindigkeit für Bloomberg, Reuters und Co. der treibende Faktor ist: Was, wenn die Maschine irrt und Fake News in die Welt setzt? Dieser Aspekt macht der deutschen Medienwissenschaftlerin Nadine Strauss Sorgen, die in Oxford zum Speed-Journalismus forscht. Denn wer übernimmt die Verantwortung für eine Falschmeldung? Der Algorithmus?

Zeitung mit der Headline "Artificial Intelligence": Das Aufspüren relevanter Ereignisse ist einer der wichtigsten Anwendungsbereiche von KI im Journalismus  (Foto: IMAGO, zerbor via www.imago-images.de)
Das Aufspüren relevanter Ereignisse ist einer der wichtigsten Anwendungsbereiche von KI im Journalismus

Nadine Strauss plädiert für Richtlinien, die die Verantwortung von Medienhäusern für ihre Nachrichten-Algorithmen regeln. Ein Problem, das die Praktiker jedoch für weniger dringend erachten. Auch Menschen machten schließlich ständig Fehler, wofür dann die Redaktion geradestehen muss.

KI bewältigt große Zahlenmengen

Technik-Enthusiastinnen in den Redaktionen betonen, dass die Automatisierungen nicht dafür da seien, Journalisten zu ersetzen, sondern dafür, ihnen den Job zu erleichtern. Vor allem bei einfachen, zahlenbasierten Meldungen. Das zahlt sich insbesondere im investigativen Journalismus aus, wo es im Zeitalter von Datenleaks immer mehr darauf ankommt, bergeweise Akten und Daten auszuwerten. Denn wenn es, wie im Falle der Panama-Papers oder jüngst der FinCen-Enthüllungen zu den Geldwäsche-Praktiken internationaler Banken, zu Datenleaks kommt, beginnt für Investigativ-Journalistinnen ein Wettlauf gegen die Zeit.

Monitoring: wichtige KI-Anwendungen im Journalismus

Dieses Potenzial der Synergie – das die Newsrooms effizienter macht – sieht auch Nidal Salah-Eddin von der Deutschen Presseagentur dpa. Sich wie ihre angelsächsischen Konkurrenten voll auf autonome Systeme zu verlassen, ist für die deutsche Agentur jedoch keine Option. Dennoch hat die dpa bereits einige Bereiche teilautomatisiert, zum Beispiel ihren bei Nachrichtenredaktionen anderer Medien sehr beliebten Terminkalender. Oder den sogenannten Story-Radar, der Reporter auf interessante Geschichten aufmerksam macht.

Das Monitoring, also das Aufspüren von relevanten Ereignissen und Entwicklungen, ist eines der wichtigsten Anwendungsbereiche von KI im Journalismus. Algorithmen sind in der Lage, das gesamte Internet in Echtzeit zu durchforsten und zu erkennen, wenn es Auffälligkeiten in den Daten gibt. Wenn an einem bestimmten Ort zum Beispiel besonders viele Tweets auf einmal abgesetzt werden, könnte dort ein Unfall oder eine Katastrophe passiert sein.

Mark Zuckerberg, CEO von Facebook, sagt am 17.11.2020 während einer Anhörung des Justizausschusses des US-Senats  über den Umgang von Facebook mit Nachrichten zur US-Wahl 2020 aus (Foto: IMAGO, Chip Somodevilla / Pool via CNP /MediaPunch via www.imago-images.de)
Mark Zuckerberg, CEO von Facebook, sagt am 17.11.2020 während einer Anhörung des Justizausschusses des US-Senats über den Umgang von Facebook mit Nachrichten zur US-Wahl 2020 aus

Pressekodex und Recherche beachtenswerter Themen: Klicks sind nicht alles

Herauszufinden, was Markt und Leserinnen wollen – das ist der wohl wichtigste Anwendungsbereich von KI im Journalismus. Doch zeichnet es gute Journalisten nicht gerade aus, dass sie ihren Leserinnen Inhalte liefern, nach denen diese nicht unbedingt gesucht haben, die aber trotzdem interessant und gesellschaftlich relevant sind? Und ist es nicht die Aufgabe von Redakteuren, selbst randständige, aber beachtenswerte Nachrichten zu veröffentlichen, die gegen jede Konsumlogik gehen?

Immer mehr konkurriert die Journalismus-Branche als Ganzes mit den großen Technologie-Konzernen wie Google, Facebook oder eben Microsoft, dessen Nachrichtenplattform MSN die erste ist, die Journalistinnen fast vollständig durch KI ersetzt hat. Doch sollten journalistisch genutzte Algorithmen nicht auch journalistische Werte reflektieren, wie sie etwa im Pressekodex zu finden sind? Idealerweise wären Journalisten sogar daran beteiligt, diese Technologien zu entwickeln.

Eines der größten Risiken von Künstlicher Intelligenz und dem massenhafter Datensammeln ist, dass Minderheiten zu wenig zu Wort kommen und dass relevante, aber noch wenig beachtete Themen ganz verschwinden. Denn auch das ist die Aufgabe von Journalismus: Dort hinzusehen, wo nicht alle hinsehen und die Welt in ihrer Vielfalt abzubilden. Medien haben eine Wächter-Funktion zu erfüllen, sie sind die „vierte Macht im Staat“.

Bisher keine Kennzeichnungspflicht für automatisch generierte Nachrichten

Durch die zunehmende Digitalisierung und Kommerzialisierung des Nachrichtengeschäftes könnte die große Stärke der Medienlandschaft Schaden nehmen: ihre kunterbunte Vielfalt, die immer auch Meinungsvielfalt bedeutet. Der Deutsche Journalistenband fordert schon seit einigen Jahren eine Kennzeichnungspflicht, doch passiert ist wenig: Die meisten Medien weisen automatisch generierte Meldungen nicht als solche aus.

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