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Gescheiterte Flucht aus der DDR – „Grenzverletzer“ und ihre Routen

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Silke Merten
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Christian Burg / Candy Sauer

Die Flucht aus der DDR war gefährlich. An der deutsch-deutschen Grenze starben zwischen 1961 und 1989 Hunderte Menschen. Erst jetzt wird bekannt: Tausende probierten es über ganz andere Routen.

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Flucht aus der DDR: Zahl der Todesopfer noch Gegenstand der Forschung

„Grenzverletzer“ – dieser Begriff taucht in Akten der DDR-Grenzpolizei auf, wenn es um Menschen geht, die ohne Erlaubnis das Land verließen. Er zeigt, dass die DDR Flucht als Akt der Gewalt begriff, lange vor 1968, als „Republikflucht“ zur Straftat wurde. Die Forschung zur Flucht aus der DDR setzte schon kurz nach der Wiedervereinigung ein. Aber es gibt bis heute große Wissenslücken.

Zum Beispiel steht die Zahl der Todesopfer des Grenzregimes noch nicht fest. Auch, weil die Recherchen sich bislang vor allem auf die innerdeutschen Landesgrenzen konzentriert haben. Nahezu unbekannt ist, wie viele Flüchtende den Umweg über den Norden oder Osten wählten – über die Ostsee oder Länder wie Ungarn und Bulgarien. Seit 2019 arbeitet ein Verbundprojekt die Todesfälle an diesen zwei Fluchtwegen am sogenannten "Eisernen Vorhang" systematisch auf.

Es flüchteten vor allem junge Männer

Der Historiker Stefan Appelius recherchiert im Verbundprojekt "Eiserner Vorhang" zu Fluchten über Bulgarien und malt ein Profil von den Flüchtigen: „Es waren fast immer Männer, selten, also höchstens zu einem Anteil von, 20, 25 Prozent waren es junge Frauen. In der Regel 20 bis 25 Jahre alt. Und man kann sagen: Sie erwarteten, dass es weniger gefährlich als an der innerdeutschen Grenze sein würde. Sie erwarteten, dass sie im allerschlimmsten Falle in einem freundlichen Land festgenommen und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden würden.“

Jedes der Ostblockländer sicherte seine Westgrenzen anders. Gefährlich war eine Flucht überall. An Bulgariens Grenzen zur Türkei, Griechenland und dem früheren Jugoslawien gab es zwar weder Minen noch Selbstschussanlagen. Dafür waren sie dicht bewacht und das Land dünn besiedelt.

„Man konnte es sich leisten, einen sehr breiten Sperrstreifen anzulegen, ein Sperrgebiet von etlichen Kilometern, das weit vor der tatsächlichen Grenze sich befand, in das man gar nicht erst hinein durfte", erklärt Stefan Appelius.

Bulgarische Hinterlandgrenze: Der etwa zwei Meter hohe Maschendrahtzaun stand an der Hinterlandgrenze von Bulgarien zur Türkei. In ihn waren Drähte mit Niederspannung gespannt. Wenn Flüchtige ihn überkletterten, wurde Alarm ausgelöst. (Foto: IMAGO, IMAGO / Ray van Zeschau)
Der etwa zwei Meter hohe Maschendrahtzaun stand an der Hinterlandgrenze von Bulgarien zur Türkei. In ihn waren Drähte mit Niederspannung gespannt. Wenn Flüchtige ihn überkletterten, wurde Alarm ausgelöst.

Fluchtversuche an der bulgarischen Grenze: Tod durch Erschießen

Selten hielt das jemanden ab, der unbedingt „rüber“ wollte. Stefan Appelius hat Fälle recherchiert, in denen Soldaten Flüchtende in den Kopf oder Oberkörper schossen. Bei den meisten Todesfällen an der bulgarischen Grenze, die er recherchiert hat, ist die Todesursache Erschießen.

Selten ist es aber, dass Fluchtversuche, die tödlich endeten, gut dokumentiert sind. Todesfälle versuchte der DDR-Staat zu vertuschen, in einigen Fällen erfuhren nicht einmal die nächsten Angehörigen, was passiert war. Umgekehrt hat der Historiker Stefan Appelius von einigen Grenztoten in Bulgarien erst durch deren Verwandte erfahren und konnte darauf seine Recherche aufbauen. Und auch sonst gleicht die Suche nach den deutschen Grenztoten im Ostblock dem Versuch, ein Puzzle zu legen, dessen Teile man erst suchen muss.

Flucht über die Ostsee

Eine Forschungsgruppe an der Universität Greifswald bearbeitet im zweiten Teilprojekt die Todesfälle bei Fluchtversuchen über die Ostsee. Wer über die Westgrenzen der Ostblockländer flüchten wollte, unterschätzte, wie gut sie abgeriegelt waren. Wer den Fluchtweg über den Norden nahm, wusste, dass der gut bewacht war. .

Merete Peetz, Politikwissenschaftlerin an der Universität Greifswald, forscht zur Flucht über die Ostsee. Sie weiß, dass es schon für Reisende strenge Regeln gab: „Auch als DDR-Bürger durfte man an der DDR-Ostsee nur mit Genehmigung Urlaub machen. Die Ferienhäuser und -wohnungen, die Zeltplätze, das war alles streng reglementiert und kontrolliert. Man musste sich nach seiner Ankunft innerhalb von 24 Stunden anmelden, dass man sich dort aufhält und wie lange man bleiben möchte. Das Baden war nur bei Tageslicht und maximal 150 Meter Entfernung vom Strand genehmigt. Und wenn man Wassersport betreiben wollte, zum Beispiel Segeln, war das auch nur mit Erlaubnis möglich.“

Drei Flüchtlinge sitzen in ihren derzeitigen Domizil in Hamburg in ihrem Fluchtboot, aufgenommen am 9. Januar 1977. Mit diesem Schlauchboot gelang einem Kraftfahrer aus Dresden zusammen mit seiner Ehefrau und seiner 5-jährigen Tochter die Flucht aus der DDR über die Ostsee.  (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture-alliance / dpa | Werner Baum)
In manchen Fällen gelang die Flucht: Eine Familie sitzt in ihrem derzeitigen Domizil in Hamburg in ihrem Fluchtboot, aufgenommen am 9. Januar 1977. Mit diesem Schlauchboot gelang einem Kraftfahrer aus Dresden zusammen mit seiner Ehefrau und seiner 5-jährigen Tochter die Flucht aus der DDR über die Ostsee. Bild in Detailansicht öffnen
In der Nacht zum 16. September 1979 gelang es den Familien Strelzyk und Wetzel aus dem thüringischen Pöߟneck mit dem selbstgebastelten Ballon nach einer halben Stunde Luftfahrt auf einer Wiese in der Nähe der oberfränkischen Stadt Naila zu landen. (Familie Strelzyk am 17.9.1979) (Foto: dpa Bildfunk, picture-alliance / dpa | Feldrapp)
In der Nacht zum 16. September 1979 gelang es den Familien Strelzyk und Wetzel aus dem thüringischen Pöߟneck mit dem selbstgebastelten Ballon nach einer halben Stunde Luftfahrt auf einer Wiese in der Nähe der oberfränkischen Stadt Naila zu landen. (Familie Strelzyk am 17.9.1979) Bild in Detailansicht öffnen

Die Flucht wollte gut geplant sein

Geglückte Fluchten sind da die Ausnahme, obwohl etliche in Büchern und anderen Medien dokumentiert sind. Merete Peetz‘ eigene Recherchen für das Greifswalder Forschungsprojekt „Todesfälle bei Fluchtversuchen über die Ostsee“ liefern ernüchternde Zahlen. 105 Todesfälle in der Ostsee waren definitiv Flüchtlinge, sagt Merete Peetz. Dazu kommen 156 Verdachtsfälle, bei denen das Forschungsteam stark davon ausgeht, dass diese Personen einen Fluchtversuch unternommen haben.

Ostseestrand in Travemünde in1989 mit Absperrung: Die Strände wurden Tag und Nacht überwacht. Eine Flucht über die Ostsee musste sehr gut vorbereitet und vorsichtig geplant sein. (Foto: IMAGO, IMAGO / sepp spiegl)
Für DDR-Bürger, die an der DDR-Ostsee Urlaub machten, gab es strenge Regeln: An- und Abreise wurden kontrolliert, man brauchte für fast alles eine Genehmigung und die Strände wurden Tag und Nacht überwacht. Eine Flucht über die Ostsee musste sehr gut vorbereitet und vorsichtig geplant sein.

Das Profil der toten Ostsee-Flüchtenden entspricht dem derjenigen an den Grenzen der Ostblockländer: jung, überwiegend männlich, überwiegend gut ausgebildet. Auffällig ist, dass die meisten aus küstenfernen Regionen stammten. Merete Peetz vermutet, dass ihr Zeitkorridor für die Fluchtplanung zu eng war. Denn sie konnten höchstens ein paar Wochen vor Ort sein, ohne aufzufallen.

Forschungsziel: Kurzbiografien für alle Todesfälle

Das Ziel des Verbundprojekts ist es, eine Kurzbiografie für alle Todesfälle zu entwerfen – für die toten Ostseeflüchtenden wie auch für die Toten an den Grenzen der Ostblockländer. Sie werden nach und nach in Handbüchern und auf der Website des Projekts veröffentlicht.

„So sorgfältig wir arbeiten, wir müssen wahrscheinlich in den sauren Apfel beißen, dass wir höchstwahrscheinlich nicht alle Fälle ermitteln werden können. Einfach aufgrund der Tatsache, dass das teilweise zu weit in der Vergangenheit liegt und viele Archivalien und Akten einfach vernichtet wurden.“

Fehlende und fehlerhafte Dokumente: viele Zweifelsfälle bleiben

Und es ist fraglich, ob die Projekt-Laufzeit reicht, um alle Verdachtsfälle zu prüfen. Denn die Corona-Pandemie legt auch die Archive lahm. Dazu kommen Widersprüche zwischen den Akten verschiedener DDR-Behörden, falsch geschriebene Namen und fehlerhafte Angaben zu Sterbeorten. Wenn Lücken bleiben, müssen die Forscherinnen und Forscher ein Sonderkapitel anlegen, Überschrift „Zweifelsfälle“. Es dürfte ein dickes werden.

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