Türkische Wissenschaftler gegen neuen Lehrplan

Evolutionsbiologen schlagen Alarm

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Anneke Meyer
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Meta Wolfsperger
Gábor Paál
Gábor Paál (Foto: SWR, Oliver Reuther)

SWR2 Impuls. Von Anneke Meyer

Die Hälfte der Türken halten die Evolutionstheorie für falsch. Weitere 25 Prozent sind sich nicht sicher. Und daran wird sich wohl kaum etwas ändern. Im Januar veröffentlichte das türkische Bildungsministerium den neuen Lehrplan - Evolution kommt darin nicht mehr vor.

Das sei das Ergebnis eines jahrelangen, staatlich gestützten Anti-Evolutionskurses, meint die türkische Gesellschaft für Ökologie und Evolutionsbiologie. Der Fachverband setzt sich jetzt für eine Wiederaufnahme der Theorie Darwins in den Lehrplan ein.

„Es ist schon beunruhigend, wenn die breite Öffentlichkeit denkt deine Forschung wäre irrelevant oder ideologischer Quatsch“, berichtet Mehmet Somel, Evolutionsbiologe an der an der Middle East Technical University in Ankara. Dass seine Forschung in der Öffentlichkeit auf Unverständnis stößt ist er gewohnt. Die neueste Entwicklung in der staatlichen Schulpolitik hat ihn dennoch in Alarmbereitschaft versetzt: „Wie es aussieht wird der Begriff ‚Evolution‘ aus den Lehrplänen der Grund- und weiterführenden Schulen jetzt komplett gestrichen. Das ist ein ernstes Problem. Die wissenschaftliche Bildung unserer Kinder steht auf dem Spiel, ihr Recht, die Natur zu verstehen.“

Muslime wie Christen lehnen die Evolutionslehre ab

Die Streichung der Evolutionsbiologie aus den Lehrplänen zeuge davon, dass die Wissenschaft in der Türkei insgesamt bedroht ist, erklärt Dittmar Graf, Professor für Biologie-Didaktik an der Universität Gießen. Seit vielen Jahren erforscht er, wie Fehlvorstellungen über die Evolution zustande kommen. Über die Situation in den USA wird oft berichtet - doch die Probleme in den muslimischen Ländern seien in dem Punkt noch größer, meint Graf.

Männer beim Beten in der Moschee (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Religion und Politik sind Gründe für die Ablehnung der Evolutionslehre in der Türkei Thinkstock -

In der Türkei hält rund die Hälfte der Bevölkerung Darwins Theorie für falsch, ein weiteres Viertel hat ernste Zweifel. Auch unter Lehramtsstudenten ist Evolutionsskepsis weit verbreitet: Nur knapp ein Viertel der zukünftigen Lehrer akzeptiert, das Mensch und Affe gemeinsame Vorfahren haben. Das konnte Dittmar Graf in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Ankara zeigen. 

Ein möglicher Grund für die fehlende Akzeptanz der Evolutionstheorie sei die Religion. Rund 84 Prozent der türkischen Bevölkerung geben laut dem letzten „World-Value Survey“ an, gläubig zu sein.

Politik verfolgt Anti-Evolutions-Strategie

Allerdings: In Italien bezeichnen sich noch mehr Menschen als religiös, dennoch ist die Akzeptanz bei den Italienern dreimal höher als bei den Türken. Den Grund dafür sieht Mehmet Somel auch in der Politik: „Seit den 80er Jahren hat die türkische Regierung eine klare Anti-Evolutionslinie verfolgt. Die Reform des Universitäts- und Bildungswesen 1980 sollte linke Strömungen unterdrücken. Als Teil dieser Agenda wurde ein sehr nationalistischer und religiöser Lehrplan an den Schulen eingeführt. Die Situation heute ist nicht das natürliche Ergebnis einer öffentlichen Meinung, sondern systematischer Bemühungen bei denen Regierung und religiöse Gruppen zusammenarbeiten.“

Das säkular geprägte Hochschulsystem hat es Wissenschaftlern erlaubt weitestgehend unabhängig von der öffentlichen Kontroverse evolutionsbiologische Forschung zu betreiben. Die Änderung des Lehrplans ist für Mehmet Somel aber ein deutliches Zeichen, dass sie sich nicht länger im Elfenbeinturm verkriechen dürfen.

Die türkische Gesellschaft für Ökologie und Evolutionsbiologie startete deshalb einen Aufruf in der Fachzeitschrift Nature, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Daraufhin schrieben mehrere internationale Wissenschaftler an das türkische Bildungsministerium.Auch Bildungsverbände bekunden auf unterschiedliche Art ihre Solidarität. Die Deutsche Giordano Bruno Stiftung, deren Mitglied Dittmar Graf ist, hat zum Beispiel einen Kinderfilm über Evolution auf Türkisch veröffentlicht.

Noch ist nichts endgültig entschieden

Der endgültige Lehrplan ist noch nicht entscheiden. Aber dass Kinder in der Türkei bald nur noch im Internet etwas über Evolution lernen können, ist nicht auszuschließen. Mehmet Somel nimmt es gelassen: „Selbst wenn es wirklich schlecht endet – in ein paar Jahren gibt es einen neuen Lehrplan. Es ist niemals das Ende der Geschichte. Wir müssen einfach mehr Druck ausüben, besser organisiert werden. Die wissenschaftliche Gemeinschaft muss sich einmischen.”

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Gábor Paál (Foto: SWR, Oliver Reuther)