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Eskalation auf dem Balkan – Neue Gefahr durch alte Konflikte

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Christoph Kersting
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Candy Sauer

Serbien weigert sich bis heute, die Unabhängigkeit des Nachbarn Kosovo anzuerkennen. In Montenegro sichert sich Belgrad politischen Einfluss durch Machtansprüche der serbisch-orthodoxen Kirche. In Bosnien gibt es Stimmen, die offen für eine Abspaltung des Landesteils Republika Srpska werben. Der Hohe Repräsentant der UNO in Bosnien spricht von der "schwersten existenziellen Bedrohung" seit der Nachkriegsperiode.

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Bosnien-Herzegowina: Scheitern vorprogrammiert

Bosnien-Herzegowina ist ein Land, das vielen als bestes Beispiel eines "failed state" gilt: eines dysfunktionalen, bürokratisch aufgeblasenen Staatenkonstrukts, das wohl von Beginn an zum Scheitern verurteilt war.

Bosnienkrieg 1992 bis 1995 forderte 100.000 Tote

Dieser „Beginn“ stand am Ende eines dreieinhalb Jahre dauernden blutigen Krieges auf dem Gebiet der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina: 100.000 Tote, über zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, 1.425 Tage Belagerung Sarajevos durch bosnische Serben – das sind die nackten Zahlen des Bosnienkrieges zwischen April 1992 und Dezember 1995.

Friedensvertrag von Dayton: ein souveräner Staat, zwei Entitäten

Im Friedensvertrag von Dayton wurden die Grundpfeiler geschaffen für das Bosnien-Herzegowina von heute: ein souveräner Staat, bestehend aus zwei in etwa gleich großen sogenannten „Entitäten": der Föderation Bosnien und Herzegowina, in der vor allem muslimische Bosniaken und katholische Kroaten leben, und dem überwiegend serbischen Landesteil, der Republika Srpska.

3-köpfiges Staatspräsidium, 150 Ministerien – für 3 Millionen Einwohner

Alle gesamtstaatlichen Institutionen des Landes arbeiten von der Hauptstadt Sarajevo aus: Das dreiköpfige Staatspräsidium, die Regierung, Justiz, Armee. Hinzu kommen aufgeblähte Verwaltungsstrukturen auf regionaler Ebene. In einem Land mit nur drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern gibt es mehr als 150 Ministerien.

Die bosnischen Serben feiern am 9. Januar 2021 ihren Nationalfeiertag in Banja Luka, Bosnien und Herzegowina. Der pompöse Zug ist nur eine von vielen Provokationen gegenüber der bosnischen Zentralregierung in Sarajevo. Denn der Nationalfeiertag ist offiziell schon seit vielen Jahren verboten, weil er andere Volksgruppen im Land, vor allem Bosniaken und Kroaten, diskriminieren und vor den Kopf stoßen könnte.  (Foto: IMAGO, IMAGO / Pixsell)
Die bosnischen Serben feiern am 9. Januar 2021 ihren Nationalfeiertag in Banja Luka, Bosnien und Herzegowina. Der pompöse Zug ist nur eine von vielen Provokationen gegenüber der bosnischen Zentralregierung in Sarajevo. Denn der Nationalfeiertag ist offiziell schon seit vielen Jahren verboten, weil er andere Volksgruppen im Land, vor allem Bosniaken und Kroaten, diskriminieren und vor den Kopf stoßen könnte.

Spannungen schaukeln sich seit Sommer 2021 hoch

Die aktuellen Spannungen schaukeln sich seit Sommer 2021 hoch: Damals erließ der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, der Österreicher Valentin Inzko, ein Gesetz, das die Leugnung von Völkermord und Kriegsverbrechen im Land verbietet – ein heikles Thema für viele Menschen in der Republika Srpska und Serbien. Denn dort wird z. B. Ratko Mladić von vielen bis heute als Nationalheld verehrt. Mladić war Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Armee im Bosnienkrieg, er organisierte das Massaker von Srebrenica, bei dem im Juli 1995 8.000 muslimische Bosniaken brutal ermordet wurden. 2017 wurde Mladić in Den Haag wegen seiner Kriegsverbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt, das Urteil im Sommer 2021 nochmals bestätigt.

Kriegsverbrecher Ratko Mladić – von vielen Serben als Nationalheld verehrt

In Banja Luka und auch in Serbiens Hauptstadt Belgrad jedoch muss man nicht lange suchen, um das an Häuserwände gesprühte Konterfei des verurteilten Kriegsverbrechers zu finden. Und Milorad Dodik nahm das Gesetz zum Anlass, weiter an der Eskalationsspirale zu drehen: Anfang Dezember 2021 stimmte das Regionalparlament in Banja Luka für den Rückzug aus zentralen Institutionen von Bosnien Herzegowina: der Armee, sowie dem Justiz- und Steuersystem – ein Schritt, der einer Abspaltung gleichkäme, sagt auch Christian Schmidt.

Milorad Dodik, Serbisches Mitglied des Staatspräsidiums von Bosnien und Herzegowina (hier bei einer Rede am 9. Januar 2021 in Banja Luka). Anlässlich des verbotenen Nationalfeiertags am 9. Januar 2022 schwadronierte er: "Ich bin überzeugt, dass die Republika Srpska eines Tages ein unabhängiger Staat sein wird und einen föderalen oder konföderalen Status mit Serbien haben wird. Dies wird auch ein Beitrag zur Stabilisierung und für den Frieden sein." (Foto: IMAGO, IMAGO / Pixsell)
Milorad Dodik, Serbisches Mitglied des Staatspräsidiums von Bosnien und Herzegowina (hier bei einer Rede am 9. Januar 2021 in Banja Luka). Anlässlich des verbotenen Nationalfeiertags am 9. Januar 2022 schwadronierte er: "Ich bin überzeugt, dass die Republika Srpska eines Tages ein unabhängiger Staat sein wird und einen föderalen oder konföderalen Status mit Serbien haben wird. Dies wird auch ein Beitrag zur Stabilisierung und für den Frieden sein."

Nationalistisches Getöse von Milorad Dodik fällt auf fruchtbaren Boden

Der CSU-Mann Schmidt, ehemaliger Bundeslandwirtschaftsminister und Staatssekretär im Außenministerium, ist seit August 2021 neuer Hoher Repräsentant der UNO in Sarajevo. Die Lage im serbischen Landesteil beschreibt er als brandgefährlich, es müsse verhindert werden, dass hier ein heißer Konflikt entsteht, bei dem Menschen in Bosnien wieder aufeinander schießen.

Zumal eine starke Zivilgesellschaft in Bosnien-Herzegowina fehlt. Denn wie in vielen anderen Westbalkan-Staaten auch – Serbien, Kosovo, Nordmazedonien – verlassen auch dort junge, gut ausgebildete Köpfe ihre Heimat zumeist in Richtung EU. Genau in solch einem Vakuum findet das nationalistische Getöse eines Milorad Dodik starken Widerhall. Hinzu komme seit Putins Überfall auf die Ukraine die Angst davor, dass dieser Konflikt auf den Balkan übergreifen könnte, sagt Christian Schmidt:

"Ich habe durchaus Sorge, dass Bosnien-Herzegowina und der Balkan insgesamt in den Konflikt mit reingezogen werden könnte."

Stabilität um jeden Preis: Hat die EU zu lange weggeschaut?

Tanja Topić kennt das nationalistische Gebaren des "Systems Dodik" und das jahrelange Wegschauen der EU aus nächster Nähe. Die Journalistin arbeitet für das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Banja Luka. Gerade hat sie einen Bekannten auf der Straße getroffen. Der Mann berichtet aufgebracht von einem Hochschuldozenten der örtlichen Uni, der sein Diplom gefälscht hat – aber wohl nichts befürchten muss, weil er das richtige Parteibuch besitzt. Genauso funktioniere das System, sagt Topić: Fast in jeder Familie gebe es jemanden, der für den aufgeblähten Staatsapparat arbeitet. Diese Leute überlegten sich natürlich drei Mal, ob sie auf die Straße gehen gegen die Regierung in Banja Luka.

Brüssel habe sich bei all dem auch mitschuldig gemacht, meint Topić, weil es pseudodemokratische Machteliten auf dem Balkan gestützt habe – um einer vermeintlichen „Stabilität“ in der Region willen. Stabilität hat oberste Priorität: Diese politische Grundhaltung war über viele Jahre auch ein Credo der Ära Merkel. Kritiker haben das der ehemaligen Bundeskanzlerin auch immer wieder vorgehalten, etwa mit Blick auf den autokratischen Politikstil von Serbiens Präsident Aleksandar Vučić.

Pro-Putin-Demonstration in Belgrad im März 2022

Anfang März 2022 zogen 4.000 bis 5.000 Menschen mit russischen Flaggen und ProPutin-Transparenten durch Belgrad. Vor dem Denkmal des russischen Zaren Nikolaus II. gab es eine Protestkundgebung, untermalt mit der russischen Nationalhymne. Viele Menschen in Serbien rechnen es Russland bis heute hoch an, dass Moskau sich 1999 im UN-Sicherheitsrat gegen die NATO-Bombardierung Belgrads und anderer serbischer Städte stellte.

IMAGO  ITAR-TASS (Foto: IMAGO, Das Porträt des russischen Präsidenten Wladimir Putin wird während einer Kundgebung zur Unterstützung Russlands und des Donbass in Belgrad auf einem Plakat getragen. Die Demonstranten unterstützen das russische Vorgehen in der Ukraine. Nach Angaben der Organisatoren nahmen etwa 50.000 Menschen an der Veranstaltung vor der russischen Botschaft teil. In Europa gibt es Sorgen, dass sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine auch auf den Balkan ausdehnen könnte.)
Das Porträt des russischen Präsidenten Wladimir Putin wird während einer Kundgebung zur Unterstützung Russlands und des Donbass in Belgrad auf einem Plakat getragen. Die Demonstranten unterstützen das russische Vorgehen in der Ukraine. Nach Angaben der Organisatoren nahmen etwa 50.000 Menschen an der Veranstaltung vor der russischen Botschaft teil. In Europa gibt es Sorgen, dass sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine auch auf den Balkan ausdehnen könnte.

Für viele Serbinnen und Serben gehört Kosovo zu Serbien

Zudem erkennt Russland die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an, genauso wie China und sogar einige EU-Staaten, darunter Spanien und Griechenland. Für Belgrad und die meisten Serbinnen und Serben gehört Kosovo fest zu Serbien, und noch häufiger als Graffitis des Kriegsverbrechers Mladić prangen an serbischen Häuserwänden oder Autobahnbrücken entsprechende Schriftzüge: "Kosovo je Srbija", „Kosovo ist Serbien“

Anfang 2008 hatte die Republik Kosovo ihre Unabhängigkeit von Serbien erklärt. Doch bis heute ist der gesamte Norden des Landes eine Art Niemandsland: Offiziell wird das Gebiet von der nur 40 Kilometer entfernten Hauptstadt Pristina aus verwaltet. In Wahrheit ist der Landstrich um Mitrovica herum, in dem rund 50.000 Serben leben, eine Art schwarzes Loch. Die Zentralregierung in Pristina hat dort nicht viel zu melden: Auf der anderen Seite der Ibar-Brücke haben die Autos entweder gar keine oder alte jugoslawische Kennzeichen, beim Einkauf werden auch serbische Dinar als Zahlungsmittel akzeptiert, die Bewohner dürfen sogar an serbischen Wahlen teilnehmen.

Der russische Überfall auf die Ukraine schürt im Kosovo durchaus Ängste, dass Serbien sich die russischen Großmachtgelüste zum Vorbild nehmen könnte. So formuliert es jedenfalls die kosovarische Außenministerin Donika Gërvalla-Schwarz:

"Wir wissen nicht, ob Serbien nicht das, was gerade in der Ukraine passiert, nicht für sich so interpretiert, dass jetzt der Weg offen sei, jetzt auch auf dem Balkan andere Realitäten zu schaffen. Das Verhalten Serbiens in den letzten Monaten ist geprägt durch starke verbale Aggression. Wir hoffen, dass wir uns unnötig Sorgen machen, aber die Realität hier in diesem Gebiet kann sich sehr schnell ändern."

Situation im Kosovo nicht direkt vergleichbar mit der Ukraine

Serbien verweigert dem Kosovo die Anerkennung als souveräner Staat, und auch hier spielt – ähnlich wie im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine – der Blick weit zurück in die Geschichte eine wichtige Rolle: Ende des 14. Jahrhunderts metzeln sich auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld, unweit von Pristina 50.000 Serben und Osmanen gegenseitig nieder.

Um diese Schlacht ranken sich bis heute Mythen und Legenden: Der serbische Heerführer Fürst Lazar wird heiliggesprochen, das Amselfeld zum Gründungsmythos des Serbentums schlechthin verklärt. Und so wie der Schutz von russischen Landsleuten weltweit seit 2020 sogar in der russischen Verfassung festgeschrieben ist, müssen auch die serbischen Minderheiten außerhalb Serbiens immer wieder für Belgrads politische Ränkespiele herhalten, nach dem Motto: Wir müssen doch unsere Leute schützen.

Experten sehen derzeit keine akute Kriegsgefahr

Aber auch hier muss laut dem Balkan-Experte Florian Bieber genauer hingeschaut werden, die Ausgangslage im Kosovo sei dann doch eine andere als in der Ukraine:

"Es gibt eine Friedensmission im Kosovo, eine NATO-Friedensmission. [...]. Auch für Serbien: Die Schwierigkeiten, mit denen Russland in der Ukraine konfrontiert ist, wären ja für Serbien noch sehr viel dramatischer. Wenn Serbien versuchen würde, Gebiete zu kontrollieren, in denen Albaner leben, gäbe es nur zwei Möglichkeiten: entweder die Vertreibung der Bevölkerung oder eine brutale Unterdrückung, zu der Serbien weder militärisch noch politisch in der Lage wäre."

Auch in Bosnien-Herzegowina haben die meisten Menschen andere Sorgen, als sich ernsthaft Gedanken wegen eines neuen Krieges auf dem Balkan zu machen. Es fehle für einen Krieg sowieso an allem, glaubt Srdjan Puhalo. Der Sozialpsychologe aus Banja Luka kommentiert das politische Geschehen in seiner Heimat in einem viel gelesenen Blog:

"Zunächst einmal gibt es hier nichts, für das die Leute kämpfen würden, keine Ideologie, keine Führer. Und wer sollte überhaupt kämpfen? Das Durchschnittsalter liegt hier bei fast 40, weil die Jungen alle abhauen. Die brauchst Du aber für einen Krieg. Und dann: Womit sollten wir überhaupt Krieg führen? In ganz Bosnien-Herzegowina gibt es 53 Panzer – wir hätten noch nicht einmal genug Klopapier, Seife, Verbandszeug."

Serbien: Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 3. April 2022

Hinweise darauf, wie es auf dem Balkan weiter geht, dürften auch am 3. April 2022 erkennbar werden, wenn in Serbien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Das serbische Verhältnis zum Kosovo, zu Russland, zur EU – und zu Abspaltungstendenzen in Bosnien-Herzegowina: All das wird auch danach ganz oben auf der politischen Agenda in Belgrad stehen.

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