SWR2 Wissen: Aula

Entfremdung - Ein Phänomen der Moderne und seine Aktualität (2/2)

Stand
AUTOR/IN
Sabine Appel
ONLINEFASSUNG
Ralf Caspary
Susanne Paluch

Die entfremdete Arbeitswelt, der sich selbst entfremdete Mensch, Entfremdung in Familien und Paarbeziehungen - der Begriff ist allgegenwärtig. Welche Bedeutung hat er für die Befindlichkeitsanalysen der Gegenwart? Dieser Frage geht die Germanistin und Buchautorin Sabine Appel im zweiten Teil ihres Vortrags nach.

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Moderne Entfremdungsdiagnosen

Naturbeherrschung und Technik - diese beiden Begriffe werden im Industriezeitalter entscheidende Komponenten für die Entfremdungsdiagnosen der Zeit.

Der französische Soziologe Émile Durkheim formulierte in seinem 1893 erschienenen Werk: "De la division du travail social" ("Über die Arbeitsteilung") die These, in der hochentwickelten Arbeitsteilung, wie sie die moderne Industriegesellschaft geschaffen habe, erlebe sich der Einzelne in der paradoxen Situation, abhängiger denn je von der Gesellschaft zu sein, während er gleichzeitig eine Ideologie von Individualismus und Autonomie vertrete, die er in dieser Gesellschaft gar nicht mehr einlösen könne.

Fließband (Foto: IMAGO, mago images / glasshouseimages)
Die Eintönigkeit der Fließbandarbeit, die sich wiederholenden Handgriffe tagein, tagaus führen zu einem Gefühl der Entfremdung von der eigenen Arbeit. Der Mensch empfindet sich als fremdbestimmt.

Sein deutscher Fach- und Zeitgenosse Max Weber beklagte den alle Bereiche des Lebens durchdringenden Rationalisierungsprozess, der die Moderne kennzeichne, den ökonomischen Rationalismus und nicht zuletzt den ebenso flächendeckenden Bürokratismus.

Am Ende dieser Entwicklungen stehe die leblose Verwaltungsmaschinerie eines weitgehend anonymen Staatsapparats und der sich als Rädchen im Getriebe erlebende und aller seiner traditionellen Bindungen entledigte einzelne Mensch.

Entfremdung in der Konsumgesellschaft

In seinem Werk: "Der eindimensionale Mensch" zeichnet Herbert Marcuse ein düsteres Bild von den ökonomisch so erfolgreichen Gesellschaften.

Herbert Marcuse (Foto: IMAGO, imago/ZUMA/Keystone)
In seinem Buch "Der Eindimensionale Mensch" analysiert der Sozialphilosoph Herbert Marcuse die spätkapitalistische Gesellschaft, die durch massenhaften Konsum die eigene Freiheit aufs Spiel setzt.

Diese seien geprägt von einer Manipulation des Individuums, das durch subtile Steuerung, etwa über die suggestive Kraft der Konsumwerbung, gewissermaßen durch Konsum gefügig gemacht oder sogar gleichgeschaltet werde, indem es auf diese Weise jede Fähigkeit zu kritischem Denken verliere und, derart betäubt, auch die Entfremdungsprozesse in seiner Lebenswirklichkeit nicht mehr wahrnehme. 

Überwindung der Entfremdung

Entfremdung ist ein zunächst indefinites Gefühl von Distanz zu den Dingen, den anderen Menschen und zu mir selbst.

Und darin steckt zugleich  ein Ansporn, diese grundsätzliche Differenz anzuerkennen, darüber hinaus aber einen Entwurf des eigenen Ich und des eigenen Lebens zu wagen, der so weit wie nur irgend möglich von einem unauthentischen, mir nicht gemäßen, von Konventionen, anderen Menschen und falschen Werten bestimmten Leben entfernt ist.

Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Dazwischen bleibt viel Raum für Gestaltung.

Teil 1, Sonntag, 9. August, 8.30 Uhr

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Sabine Appel
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Ralf Caspary
Susanne Paluch