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Chemische Kampfstoffe – Von Chlorgas bis Nowitschok

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Marten Hahn
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Chemiewaffen sind international verboten, werden aber eingesetzt – vom syrischen Assad-Regime etwa oder dem Kreml. Mit künstlicher Intelligenz könnten sie noch gefährlicher werden.

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Schlacht von Ypern 1915: Giftgaseinsatz im Ersten Weltkrieg

Viele Menschen in Europa denken beim Stichwort Chemiewaffen an Gasmasken, Schützengräben, Erster Weltkrieg. Damals wird Giftgas zum ersten Mal in großem Maßstab eingesetzt. Bei der Schlacht von Ypern 1915 entlassen die Deutschen tonnenweise Chlorgas in die Luft. Der Wind trägt das Gas bis in die gegnerischen Schützengräben. Hunderte alliierte Soldaten sterben. Es folgt ein chemisches Wettrüsten zwischen Deutschland und den Alliierten.

Erich Maria Remarque schreibt in seinem Anti-Kriegsroman "Im Westen Nichts Neues" über die Wirkung von Giftgas im Krieg. Remarques Werk wurde für Netflix verfilmt und erhielt im März 2023 vier Oscars.  (Foto: IMAGO, IMAGO / Everett Collection)
Erich Maria Remarque schreibt in seinem Anti-Kriegsroman "Im Westen Nichts Neues" über die Wirkung von Giftgas im Krieg. Remarques Werk wurde für Netflix verfilmt und erhielt im März 2023 vier Oscars.

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs werden chemische Waffen zum Tabu. Im Zweiten Weltkrieg kommen sie auf dem Schlachtfeld nicht zum Einsatz. Doch im Lauf des 20. Jahrhunderts wird in vielen Ländern weiter geforscht und produziert. Immer giftiger werden die Stoffe: Auf Senfgas folgen Tabun und VX. In den 1960er-Jahren setzen die USA das Entlaubungsmittel Agent Orange in Vietnam ein. Das Land kämpft bis heute mit den Spätfolgen. SWR2 Wissen berichtet darüber in der Folge: "Gifteinsatz im Vietnamkrieg".

Chemiewaffeneinsatz im Irak und in Syrien

In den 1980er-Jahren ordnet Saddam Hussein den Einsatz von Sarin an gegen iranische Truppen und gegen Kurden im eigenen Land. Im Sommer 2012 gibt das Assad-Regime zu, was westliche Geheimdienste längst wissen: Syrien besitzt Chemiewaffen und ist bereit, sie einzusetzen.

Am 21. August 2013 bombardierte das Assad-Regime Vororte von Damaskus mit Sarin. Mehr als 1.400 Menschen starben, darunter zahlreiche Kinder.  (Foto: IMAGO, IMAGO / ZUMA Wire)
Am 21. August 2013 bombardierte das Assad-Regime Vororte von Damaskus mit Sarin. Mehr als 1.400 Menschen starben, darunter zahlreiche Kinder.

Nach den verheerenden Angriffen mit Sarin im August 2013 zwingt die internationale Gemeinschaft Syrien zur Abrüstung. Der Großteil der gemeldeten Bestände syrischer Chemiewaffen wird vernichtet.

Doch was folgt, ist nicht weniger grausam: Das Assad-Regime beginnt, die Bevölkerung mit improvisierten Chlorgas-Bomben zu terrorisieren. Chlor ist nicht verboten. Es wird zum Beispiel zur Wasserreinigung benötigt. In hohen Dosen ist es jedoch giftig und beschädigt Lungen und Atemwege.

Assad-Regime setzt legal erhältliches Chlor ein

Bei mehr als 90 Prozent aller chemischen Angriffe setzte das Assad-Regime legal erhältliches Chlor ein. Das ergab eine Untersuchung des Global Public Policy Institute, kurz GPPI. Die Denkfabrik hat die umfassendste Datenbank zu den Chemiewaffen-Angriffen in Syrien zusammengestellt.

"Ein Haupt-Charakteristika von Chemiewaffen ist, dass chemische Gase im Zweifel auch in Keller und Bunker sickern und es also keinen Ort gibt, an dem man sich verstecken kann vor Chemiewaffen-Angriffen."

Entsprechend heißt ein Podcast, den Katharina Nachbar und ihr Team vom Global Public Policy Institute zum Thema produziert haben: "Nowhere To Hide" – Es gibt kein Entkommen, in englischer und arabischer Fassung.

Russland änderte seine Einstellung zum Einsatz von Chemiewaffen in Syrien

Zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien übte Russland zunächst Druck auf das Assad-Regime aus. Der Kreml bewegte Syrien dazu, der Chemiewaffenkonvention beizutreten und arbeitete bei der folgenden Abrüstung eng mit westlichen Staaten zusammen.

Doch wo immer möglich, blockiert Russland mittlerweile internationale Versuche, Assad für seine Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.

Nowitschok: Russland setzt Nervengift gegen Skripal und Nawalny ein

Im März 2018 sorgte Russland indirekt dafür, dass die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) einen neuen Stoff auf die Liste verbotener Substanzen setzte. Nach dem Anschlag in Salisbury auf den ehemaligen Agenten Sergei Skripal und seine Tochter identifizieren Chemiewaffen-Experten das Nervengift Nowitschok.

In seinem Buch "Chemical Warrior" beschreibt der britische Chemiewaffen-Experte Hamish de Bretton-Gordon das Ausmaß der nötigen Dekontamination nach dem Giftanschlag mit Nowotschik im englischen Salisbury: "Die Dekontaminierung dieser Gebiete dauerte fast 18 Monate. Dabei fielen 13.000 Säcke mit Material und 37 Fahrzeuge an, die alle zerstört undoder an einem sicheren Ort vergraben werden mussten."  (Foto: IMAGO, IMAGO / i Images)
In seinem Buch "Chemical Warrior" beschreibt der britische Chemiewaffen-Experte Hamish de Bretton-Gordon das Ausmaß der nötigen Dekontamination nach dem Giftanschlag mit Nowotschik im englischen Salisbury: "Die Dekontaminierung dieser Gebiete dauerte fast 18 Monate. Dabei fielen 13.000 Säcke mit Material und 37 Fahrzeuge an, die alle zerstört und/oder an einem sicheren Ort vergraben werden mussten."

Wirkstoffe der Nowitschok-Familie wurden während des Kalten Kriegs von der Sowjetunion entwickelt. Die Substanzen können in flüssiger Form eingesetzt werden und sind schon in kleinen Mengen tödlich. Sie überreizen das Nervensystem und lösen Krämpfe, Atemnot, Erbrechen und Lähmung aus. Im August 2020 folgt ein weiterer Giftanschlag: Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny wird in Russland mit Nowitschok vergiftet.

Auch Nordkorea setzte bereits Gift ein

Neben Syrien und Russland ist auch Nordkorea mit dem Einsatz von Chemischen Kampfstoffen aufgefallen. Auf den Halbbruder von Machthaber Kim-Jong-Un wurde 2017 ein Anschlag mit dem Gift VX verübt.

Befürchtung, dass Russland in der Ukraine Chemiewaffen einsetzt

Weltweit als größere Bedrohung wird aktuell aber Russland wahrgenommen. Das Land lässt die internationale Öffentlichkeit über seine chemischen Kampfstoffe im Unklaren und nährt dadurch die Befürchtung, dass der Kreml sie in der Ukraine einsetzen könnte. Patrick Bolder glaubt jedoch nicht, dass Russland in der Ukraine bald Chemiewaffen einsetzt. Bolder war 40 Jahre Berufssoldat bei der niederländischen Luftwaffe. Heute arbeitet er als Analyst beim The Hague Center for Strategic Studies, einem Think-Tank, der sich vor allem mit sicherheitspolitischen Fragen beschäftigt.

"Man muss sehr gut wissen, wie die Windrichtung zu einem bestimmten Zeitpunkt ist und wie lange diese Windrichtung anhält. Denn wenn man die Substanzen einmal losgelassen hat, kann man sie nicht mehr eindämmen. Wenn der Wind plötzlich die Richtung ändert, wird man selbst zum Opfer. […] Das kann man nicht wollen. Vor allem, wenn man so die eigenen [russischen] Truppen gefährdet."

Chemiewaffen bleiben eine Bedrohung. Dafür sorgen auch neue technische Entwicklungen, die den Kampf gegen Chemiewaffen in Zukunft noch viel schwieriger machen könnten.

KI entwirft im Experiment neue chemische Kampfstoffe

Sean Ekins und sein Team suchen normalerweise nach Stoffen, die Menschen heilen können. Doch im Rahmen einer Schweizer Abrüstungskonferenz für biologische und chemische Waffen wurde Ekins Firma Collaboration’s Pharmaceuticals um ein Experiment gebeten: künstliche Intelligenz nach Entwürfen für chemische Kampfstoffe zu befragen.

40.000 Moleküle entwarf die Maschine auf diese Anfrage. Nicht alle konnten Ekins und Kollegen prüfen. Doch viele der Stoffe, sollte man sie herstellen, sind hochgiftig.

Das Experiment hatte damit mindestens drei Probleme aufgezeigt.

  1. Ekins Kollege nutzte für die Übung einfach erhältliches technisches Equipment und ließ den Code auf seinem Rechner laufen.
  2. Die Maschine hatte Ideen für neue chemische Waffen entwickelt, die auf keiner Verbotsliste stehen und die sich möglicherweise schwerer aufspüren ließen.
  3. Es könnten mithilfe von KI neue Wege gefunden werden, um bereits bekannte hochgiftige Stoffe herzustellen.

Denn nicht nur Chemiewaffen werden kontrolliert. Auch die Zutaten werden von Aufsichtsbehörden beobachtet. Würden die Zutaten ausgetauscht, fiele dieses Warnsystem weg. Und die jüngste Vergangenheit zeigt: Chemiewaffen bleiben eine Bedrohung. Darum ist es weiter wichtig dafür zu kämpfen, die Bedrohung so klein wie nur irgend möglich zu halten.

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