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Willenskraft – Wie erlernt man Selbstkontrolle?

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Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)
Ulrike Barwanietz

Ab heute keine Süßigkeiten mehr! Ich will Karriere machen! Für solche und andere Vorhaben braucht man einen starken Willen, der einen auch mal die Zähne zusammenbeißen lässt.

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Es gibt jede Menge Kurse und Ratgeber, mit deren Hilfe wir unsere Selbstkontrolle stärken sollen. Wissenschaftler tun sich schwer damit, die Willensstärke fassbar zu machen. Eine Zeit lang galt sie als Ressource, die sich umso schneller verbraucht, je häufiger sie abgerufen wird. Heute jedoch verstehen Forscher Willensstärke eher als kompliziertes Gebilde aus unterschiedlichen Eigenschaften. Das macht es zwar nicht leichter, sie zu trainieren, aber es offenbaren sich auch Chancen. Jeder Mensch scheint seine ganz individuelle Willensstärke zu besitzen.

Widerstand gegen die Versuchung: Das Marshmallow-Experiment

Zwischen 1968 und 1974 führte Walter Mischel, ein inzwischen emeritierter Psychologieprofessor an der Columbia Universität New York, erstmals seine berühmten Marshmallow-Experimente durch. Tests mit den bunten Schaumzuckerteilchen, die Kinder so lieben. Mischel testete zuerst Vier-bis Sechsjährige, dann auch Ältere.

In Filmen ist dokumentiert, was die Kinder in Walter Mischels Experimenten alles unternahmen, um der leckeren Versuchung vor ihren Augen zu widerstehen und sich zwei Süßigkeiten zu verdienen.

Einige begannen zu pfeifen, zu singen oder ihre Zehen abzuzählen. Andere versuchten zu schlafen, schlossen die Augen, dachten sich Spiele aus oder murmelten vor sich hin "Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht".

Selbstkontrolle kann an lernen

Fast 50 Jahre lang hat der im September 2018 verstorbene Psychologe Walter Mischel solche Experimente durchgeführt, und andere Forscher haben seine Ergebnisse weitgehend bestätigt. Schon Vierjährige zeigen: Es ist zu schaffen, wenn auch nicht von jedem.

Je älter die Kinder sind, desto besser klappt es. Bei Studien mit 12-jährigen konnten bereits 60 Prozent ihr unmittelbares Bedürfnis bis zu 25 Minuten lang regulieren. Das scheint damit zusammenzuhängen, wie sie schon als Babys lernen, mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen umzugehen.

Je sensibler die Eltern auf die Wünsche und Gefühle ihrer Kleinen eingehen, desto besser lernen Mutter und Vater, diese zu erkennen und mit ihnen umzugehen. Wenn die Kinder die Erfahrung machen, dass ihre Bedürfnisse im Prinzip schon ganz gut erkannt und erfüllt werden, halten sie es auch aus, wenn das einmal nicht klappt oder etwas länger dauert. Sie lernen Triebaufschub.

Süßigkeiten widerstehen lernen - auch eine Frage der Willenskraft (Foto: Colourbox, Model Foto: Colourbox.de -)
Süßigkeiten widerstehen lernen - auch eine Frage der Willenskraft

Frustrationstoleranz und Autonomie

Willensstärke entwickeln Kinder also dann, wenn sie ihre Wünsche und Bedürfnisse äußern und mit Widerständen umgehen können. Sie lernen Frustrationstoleranz und Autonomie: ich kann mein unmittelbares Bedürfnis – z.B. Essen, Trinken, Schlafen, Schmusen - willentlich unterdrücken und auf eine bessere Situation warten, um es zu befriedigen.

Oder ich kann in kleinen Schritten auf eine solche Situation hinarbeiten. Eine Forschergruppe um Walter Mischel untersuchte, wie Mütter mit ihren Kindern in den ersten drei Lebensjahren umgingen. Kinder, die stark reglementiert und deren Willensäußerungen unterdrückt wurden, konnten mit fünf Jahren im Marshmallowtest nicht lange warten.

Anders die Kinder, die von feinfühligen Eltern aufgezogen wurden und eine gute Bindung zu ihnen hatten. Sie konnten auf den einen Marshmallow verzichten, um zwei zu bekommen. Und das, fand Walter Mischel in Langzeitstudien heraus, hat dann weitgehende Konsequenzen.

Verbraucht Willenskraft Zucker?

Wer früh lernt, kontrolliert mit seinem Willen umzugehen, kann nicht nur Süßigkeiten widerstehen. Er lässt sich offenbar auch im Arbeits- und Beziehungsleben nicht so leicht aus der Bahn werfen.

Thomas Goschke ist Sprecher eines Sonderforschungsbereichs zum Willen und zur Willenskontrolle an der Universität Dresden. Er hat sich mit dem einflussreichen Ressourcenkonzept des amerikanischen Forschers Roy Baumeister auseinandergesetzt.

Demnach verbrauchen Willensanstrengungen unheimlich viel Energie in Form von Glucose, also Traubenzucker. Da dieser Vorrat an Energie begrenzt sei, würde unsere Willenskraft umso schwächer, je öfter wir sie hintereinander benötigen.
Allerdings konnten einige Forscher diese Theorie in den letzten Jahren nicht bestätigen.

Langfristige Ziele wirken motivierender

Viele Wissenschaftler erklären daher inzwischen anders, warum die Willenskraft manchmal nachlässt und manchmal stärker wird. Das Ziel muss scheinbar langfristig sinnvoll erscheinen und motivierend sein, wenn man seinen Willen anstrengt.

Entscheidend sei daher die Balance zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivationen. Extrinsisch motiviert bedeutet: Man bekommt eine Aufgabe von außen gestellt; intrinsische Motivation heißt: Man tut etwas, was man selber will.

Wenn man im Büro ständig Vorgaben anderer abzuarbeiten hat, muss man sich häufig dazu zwingen. Kann man aber eigene Ideen umsetzen, entlastet das den Willen: Jetzt macht man ja, was man selber will.

Willensentscheidungen werden erforscht

Der Psychologe Thomas Goschke nutzt für seine Studien über Willensentscheidungen Smartphones. Mehrmals am Tag erhalten Versuchspersonen ein Signal und müssen dann Fragen beantworten: "Verspüren Sie gerade einen starken Wunsch, etwas Bestimmtes zu tun, etwas zu essen oder ein Computerspiel zu spielen?"

Räderwerk im Gehirn (Foto: Colourbox, Foto: Colourbox.de -)
Alles unter Kontrolle? Wie sehr wir unseren Impulsen widerstehen können unterscheidet sich von Mensch zu Mensch.

"Steht dieser Wunsch in Widerspruch zu ihren langfristigen und übergeordneten Zielen, z.B. abzunehmen oder diszipliniert zu arbeiten?" "Haben sie dem Wunsch nachgegeben oder haben Sie widerstanden?"

Die Analyse der Antworten zeigt: Menschen unterscheiden sich darin, wie oft sie einen unmittelbaren Wunsch zugunsten eines langfristigen Ziels unterdrücken können.

Zusammensetzung von Stärke

Henrik Walter vom Forschungsbereich Mind and Brain an der Berliner Charité ist einem großen Rätsel nachgegangen, das die aktuelle Willenskraftforschung aufgibt: Wie kann man überhaupt davon sprechen, dass Menschen unterschiedliche Willenskraft besitzen, wenn sich diese aus verschiedensten Einzelfähigkeiten zusammensetzt?

Walters Team untersuchte 120 Versuchspersonen, die zunächst Fragebögen ausfüllen mussten, mit denen sich statisch ihre generelle Willensstärke berechnen ließ. Danach absolvierten die Probanden Verhaltenstests. Diese untersuchten ihre geistige Flexibilität, wie gut sie Gefühle unterdrücken oder sich auf ein Ziel konzentrieren und daran festhalten konnten.

Manche Tests analysierten sogar zwei Fähigkeiten gleichzeitig. Zum Beispiel die Fähigkeiten, sich nicht ablenken zu lassen und einem Impuls zu widerstehen.
Henrik Walter konnte mit seiner Studie statistisch belegen, dass Menschen sich tatsächlich in ihrer Willenskraft unterscheiden.

An sich arbeiten geht immer

Die gute Nachricht: Niemand ist völlig verloren. Wir müssen nicht in allen Aspekten der Willensstärke gut sein, um hohe Selbstkontrolle zu besitzen, sondern können Schwächen durch Stärken ausgleichen.

Andere müssen vielleicht eher an ihrer Motivation arbeiten, oder an ihrer geistigen Flexibilität. Mit Übungsprogrammen kann man seine Konzentrationsfähigkeit trainieren und so die Aufmerksamkeit besser steuern.

Die Berliner Psychologin Christine Stelzel untersucht, inwieweit die Willenskraft auch unbewusst beeinflusst werden kann. Etwa über Hypnose, die ja schon bei Schmerzbehandlungen und in der Psychotherapie eingesetzt wird.

Bei Stelzels Untersuchungen unterstützte ein Hypnosetherapeut die Versuchspersonen in ihrem Entschluss, nicht mehr zu naschen oder Alkohol zu trinken. Erste Ergebnisse legen nahe, dass dadurch tatsächlich die Hirnregionen beeinflussbar sind, die mit diesen Impulsen zu tun haben.

Ob Hypnose den Willen tatsächlich längerfristig stärken kann, müssen weitere Studien zeigen. Gerade bei chronischer Ess-, Nikotin-oder Alkoholsucht dürfte es sinnvoll sein, in dieser Richtung weiter zu forschen, denn hier stoßen bewusste Willensanstrengungen oft an ihre Grenzen.

SWR 2016 / 2018

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