Pharmaindustrie ist an Alternativen zu Tierversuchen interessiert
Drei Millionen Tiere werden in Deutschland für die Forschung verbraucht. Über Alternativen wurde bisher vor allem geredet – in der Praxis hat sich wenig geändert, die Zahl der Versuche ging keineswegs zurück. Doch möglicherweise ändert sich das jetzt, meint Thomas Hartung, Toxikologe an der angesehenen John-Hopkins-Universität in Baltimore. Er war früher verantwortlich für die Bewertung von Alternativmethoden bei der Europäischen Union. Ein Hauptargument für ihn: die fehlende Übertragbarkeit von Tierversuchen auf den Menschen.
Wenn man denselben Tierversuch mit Mäusen und Ratten macht, kommt nur in etwa 60 Prozent der Fälle dasselbe Ergebnis raus. Und es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass eins der Tiere den Menschen besser widerspiegeln würde als sie sich gegenseitig widerspiegeln.
Interesse der Industrie
Die Industrie habe jedenfalls ein Interesse, Tierversuche durch Alternativen zu ersetzen:
- Aus Kostengründen. Tierversuche sind extrem teuer.
- Aus Zeitgründen: Bis ein Tierversuch Ergebnisse liefert, vergehen vier bis fünf Jahre.
- Aus Imagegründen: Mit Tierversuchen möchten Unternehmen ungern assoziiert werden. Und, nicht zu guter Letzt, auch wegen schwieriger Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen.
„Wir haben einen Wettbewerb der Ideen: Jede Pharmafirma kann sich die Methoden aussuchen, mit denen sie ihre Medikamente entwickelt. Und da geht es vor allem darum: Was ist schnell und was ist korrekt? Tierversuche sind nicht besonders korrekt in ihren Aussagen. Dort, wo wir einen freien Markt haben, sehen wir einen enormen Zuwachs an neuen Methoden.“
Die meisten Substanzen, die im Tierversuch funktioniert haben, versagen beim Menschen
Zu den neuen Methoden zählen nicht nur Zellkulturen, sondern auch Computerdatenbanken und Algorithmen. Warum die besser als ein Tierversuch sein sollen, mag zwar nicht sofort einleuchten, doch ist die Vorhersagekraft der Computer in der Toxikologie tatsächlich oft besser als die der Tierversuche. Denn: Eine Maus kein Mensch. Die Pharmaindustrie weiß das sehr genau. Bis zu 97 Prozent der Substanzen, die im Tierversuch wunderbar funktioniert haben, versagen anschließend in der Anwendung am Menschen, sagt Thomas Hartung. Doch warum nehmen Tierversuche dann trotzdem zu? Die Grundlagenforschung steht bei der Entwicklung von Alternativen auf der Bremse, sagt Thomas Hartung.

Grund für mehr Tierversuche: die Grundlagenforschung
„In der Grundlagenforschung haben Tierversuche in den letzten Jahren wieder zugenommen. Das hat im Wesentlichen damit zu tun, dass es besonders tierintensive Methoden gibt – das sind die, bei denen wir die Gene von Mäusen verändern. Indem wir einzelne Gene ausschalten, oder durch andere ersetzen. Diese maßgeschneiderten Tiere sind ein ganz wertvolles Forschungstool geworden. Und alles, was wir auf der einen Seite sparen, in der Industrie, wird im Augenblick dadurch kompensiert und manchmal sogar schon wieder überkompensiert durch den Anstieg der Grundlagenforschung.“
Mediziner, die nach Alternativen suchen
Inzwischen jedoch fordern immer mehr Forscher ein Umdenken. Auch Stefan Hippenstiel, Professor für Infektiologie und Pneumologie. Er steht vor der Wasserstrahl-Schneidemaschine in der Charité, Europas größtem Universitätsklinikum. Die Maschine, kaum größer als ein Staubsauger, aber teurer als ein Einfamilienhaus, kann lebendes Lungengewebe in winzig kleine Scheiben schneiden. Mit ihnen können Forscher schnell und genau untersuchen, wie gefährlich ein neu aufkommendes Virus ist. Ohne Tierversuche.
Doch nur mit Geschick und auf Umwegen gelang es den Forschern, die nötigen Fördermittel einzutreiben: „Sie sollten nicht sagen, dass sie eine Alternativmethode entwickeln, sondern Sie treten mit einer hochwissenschaftlichen inhaltlichen Fragestellung an. Sie argumentieren zum Beispiel, dass es darum geht, ein menschliches Lungengewebe besser lebend zu mikroskopieren, um dies oder jenes erforschen zu können.“
Neues Zentrum zur Erforschung von Alternativen
Auf der Suche nach Alternativen wollten die Forscher der Charité nicht länger im stillen Kämmerlein vor sich hinforschen, sondern gemeinsam interdisziplinär vorangehen. Und so gründete die Charité im Frühjahr ein Zentrum zur Erforschung von Alternativmethoden. Eine der treibenden Kräfte dabei: Stefan Hippenstiel.
Verzicht auf Tierversuche bedeutet Karriererisiko
Nicht mit Tierversuchen zu arbeiten, bedeutet allerdings auch ein Karriererisiko. Alternativmethoden werden nicht immer als gleichwertig betrachtet.
„Wir hatten vor kurzem eine Publikation in einer sehr hochwertigen Fachzeitschrift, die Studie war rein an menschlichem Material erfolgt. Und zwei der drei Gutachter wollten unbedingt, dass diese Sachen in der Maus nachvollzogen werden, sie zweifelten unsere Ergebnisse nicht an, aber sie wollten gezeigt haben, dass es auch in der Maus funktioniert. Und das haben wir dann nicht gemacht und nicht gewollt. Und deswegen konnten wir in diesem Journal auch nicht publizieren.“
Für seine Weigerung, den Versuch an der Maus zu wiederholen, hatte Hippenstiel gute Gründe. Der Krankheitserreger, um den es ging – das Mers-Virus – greift Mäuse gar nicht an. Mäuse erkranken daran nicht. Ein Mausversuch hätte somit keinerlei Erkenntnis gebracht: „Wo ist dann der Nutzen?“
Hippenstiels Kollege und Mitstreiter Andreas Hocke, auch er Infektiologie-Professor an der Charité, hat sich gegen Tierversuche entschieden, nachdem er Mäuse, die einen Tierversuch überlebten, töten musste.
„Ich habe eine innere Schranke aufgebaut.“
„Mir wurde dabei in dieser Unmittelbarkeit, Leben in den Händen zu halten und es zu beenden, einfach klar, dass das nicht in Ordnung ist. Und das hat mich zutiefst berührt. Das hat auch dazu geführt, dass ich innerlich nicht nur eine Schranke aufgebaut habe, sondern eine Entscheidung getroffen habe, dass das für mich keine Option ist, so mein Leben zu verbringen.“
Auch wenn er überzeugt ist, dass Tierversuche wesentlich zum Wissensstand der Medizin beigetragen haben – für Hocke kamen sie aus ethischen Gründen nicht mehr in Frage. „Ich habe mich dann wissenschaftlich erstmal auch erheblich umorientiert. Und dann kam ich mit Herrn Hippenstiel zusammen und habe dann viele neue Methoden kennengelernt, und hatte dadurch sicherlich auch zwei, drei, vier Berufsjahre in meiner Karriere, die ich verloren habe. Und eigentlich wieder von vorne begann.“
Der Wissenschaftler entschied sich, ein zu diesem Zeitpunkt noch nahezu unbekanntes Modell mit menschlichem Lungengewebe aufzubauen. Später wurde es preisgekrönt – weil es verlässlicher als der bisherige Tierversuch ist. Das war anfangs jedoch nicht absehbar.

Langer Weg zum Erfolg
„In der ersten Runde bin ich stark abgeprallt, und gescheitert, und dann waren wieder zwei Jahre vorbei. Und dann kam tatsächlich ein Kliniker aus einer anderen Klinik auf uns zu und fragte, ob wir nicht mit diesen Lungen arbeiten wollen. Und das war dann eigentlich der erste kleine Durchbruch, wo wir dann über Jahre mit den klinischen Partnern, mit den Chirurgen hier in Berlin, über die Jahre ein Netzwerk aufgebaut haben. Dass Patienten aufgeklärt werden, dass die gefragt werden, dass wir das Lungengewebe bekommen, dass es aus dem OP direkt zu uns geliefert wird und so weiter.“
Nach vielen Jahren hat das Engagement von Hippenstiel, Hocke und anderen dazu geführt, dass die Charité jetzt ihr Zentrum zur Erforschung von Alternativmethoden eröffnet. Ein Vordenker dabei ist der Dekan der Charité. Im November findet in Berlin die Einweihungsfeier statt. Dann gibt es das Zentrum zur Erforschung von Alternativmethoden nicht nur formell und ideell, sondern auch mit eigenem Türschild.
Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG unterstützt es. Im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung des neuen Zentrums verleiht die DFG einen Preis an zwei Forscher – nicht für besondere Wissenschaftsleistungen, sondern für Tierschutz.
Weitere Aspekte der Sendung:
- Charité: neues Institut zur Erforschung von Alternativen zu Tierversuchen
- Mauritius - zweitgrößter Exporteur von Versuchsaffen