Diagnose: "Wissenschaftsfeindlichkeit"
Bisher schien Wissenschaftsfeindlichkeit eine Ausnahmeerscheinung zu sein. Doch inzwischen erscheinen populistische Vereinfachungen als probates Mittel, den Anstrengungen der komplexen Moderne zu entkommen. Der sachliche Diskurs, der uns seit der Aufklärung als gemeinsame Basis unerlässlich zu sein schien, wird nun verächtlich gemacht.
Ein kurioses Beispiel für den Irrationalismus
Ein besonders krasses Beispiel für irrationales Verhalten im Bereich der Pädagogik sind die sogenannten Sandwesten für Zappelkinder in Hamburgs Schulen. Das Gewicht der Westen soll die aufmerksamkeitsgestörten Schüler beruhigen. Wissenschaftlich belegt ist die Wirkung solcher Gewichte auf den Kinderschultern nicht. Und die Schulen pfeifen auch darauf.
Wenn Wissenschaftler Heilsbringer werden
Schuld an der Glaubwürdigkeitskrise haben Wissenschaftler, die ihre Rolle als Erkenntnissucher gegen die des Heilsbringers eingetauscht und den Menschen wer weiß was versprochen haben. Oft genug wurden schon der Krebs oder der Herztod besiegt.

Aber oft genug sind die angekündigten Erfolge eben nicht eingetreten. Sobald Wissenschaftler mehr verheißen als sie erfüllen können, wecken sie Erlösungshoffnungen, die sie notwendigerweise enttäuschen müssen.
Schuld ist auch das System
Wahrheitssuche verträgt sich nicht mit dem Wettrennen, zu dem das Forschen verkommen ist. Es gibt einen Beschleunigungsdruck; das Tempo und die Größe von Forschungseinheiten werden systematisch mit Qualität verwechselt. Es gibt also neben der Glaubwürdigkeitskrise auch ein ernsthaftes Qualitätsproblem.
Der Irrationalität die Stirn bieten
Gerade in solchen Konflikten, die uns auf Schritt und Tritt auf allen politischen Ebenen begegnen, wie die Glyphosat- oder Klimadebatte wäre eine unabhängig urteilende Wissenschaft dringend nötig. Sie darf sich nur nicht vor der Politik wegducken, wenn es hart auf hart kommt.
Die Wissenschaft liefert der Debatte dabei nicht die absolute Wahrheit, aber sie führt sachliche Argumente des Für und Wider ein, die gerade für den demokratischen Diskurs wichtig sind.
Der Wissenschaftler als der ewig Suchende
Wissenschaftler werden ihrer Verantwortung für die Freiheit von Forschung und Lehre nicht etwa dann gerecht, wenn sie sich im Vollbesitz der Wahrheit dünken. Denn wissenschaftliches Wissen ist immer vorläufig. Mit Ungewissheiten umzugehen, ist nicht nur für die Gesellschaft anstrengend, sondern vor allem für die Wissenschaftler selbst. Sie brauchen ein enormes Maß an Selbstdistanz und Selbstkritik.

Heike Schmoll ist Journalistin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Korrespondentin in Berlin. Sie ist zuständig für Schul- und Hochschulpolitik sowie Fragen der wissenschaftlichen Theologie und verantwortlich für die Seite "Bildungswelten".