Zwei Berberaffen mit Jungem (Foto: SWR, SWR - Alfred Knödler)

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Familienbande – Generationen im Tierreich

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Udo Zindel
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Ulrike Barwanietz
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)

Mutterliebe, Respekt vor dem Alter, Sorge um Kranke oder Greise - das Miteinander von Generationen gilt als eindeutig menschlich. Doch auch Tiere geben den Gebrauch von Werkzeugen, soziales Verhalten und Beziehungsrituale über viele Generationen weiter, durch gezieltes Vor- und Nachmachen.

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Ameisenstaaten pflegen – wie menschliche Gesellschaften – eine Arbeitsteilung, die sich nach dem Lebensalter richtet. Wobei die Insekten menschliche Gepflogenheiten komplett auf den Kopf stellen: Statt allmählich langsamer zu treten, übernehmen ältere Arbeiterinnen besonders fordernde, gefährliche Aufgaben draußen im Freien, wie Futter zu suchen oder das Nest gegen Angreifer und Räuber zu verteidigen.

Für das Überleben der Kolonie ist das durchaus sinnvoll – die Älteren haben ja ohnehin eine geringere Lebenserwartung. Junge Arbeiterinnen bleiben in der relativen Sicherheit des Nests. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, die Brut der Königin – ihrer Mutter – zu pflegen. Sie versorgen die Eier und kümmern sich um die Larven.

Selbstlosigkeit und Evolution

Das Rätsel um die "Selbstlosigkeit" der Ameisen untersuchen Evolutionsbiologen schon seit den Tagen Charles Darwins. Nach seiner Theorie "Über die Entstehung der Arten" müsste jedes Tier eigentlich um jeden Preis versuchen, sich selbst fortzupflanzen, um seine Gene in die nächste Generation zu tragen: Jeder gegen jeden, survival of the fittest.

Weil sie – auch dank dieser Arbeitsteilung zwischen den Generationen – ganze Staaten bilden, haben sich Ameisen, ähnlich den Menschen, zu einer dominanten Art entwickelt. Sie kommen auf allen Erdteilen, mit Ausnahme der Arktis und Antarktis, vor. Und obwohl es eine Ameise nur auf wenige Tausendstel Gramm Körpergewicht bringt, wiegen die etwa zehntausend Billionen Ameisen der Welt zusammen etwa so viel, wie die sechseinhalb Milliarden Menschen.

Kolonie in der Krise

Lange betrachteten Wissenschaftler Ameisenstaaten als harmonische, bestens organisierte Superorganismen, die präzise wie Uhrwerke funktionieren. Doch in den letzten beiden Jahrzehnten entdecken Forscher mehr und mehr, dass auch in diesen Staaten auf verschiedensten Ebenen Interessen aufeinanderprallen und Konflikte entstehen.

Wenn in einer Kolonie z. B. mehrere Königinnen leben, kämpfen sie bei vielen Arten – auch gewaltsam und bis zum Tode – um die Vorherrschaft. Oder: Wenn die dominante Königin eines Staates stirbt, verzehren sich die Arbeiterinnen oft in Rangkämpfen.

Das Gesamtinteresse eines Staates

Konflikte dieser Art haben durchaus eine Sprengkraft, die einen Ameisenstaat zerfallen lassen oder ihn ganz zerstören kann. Eines der spannendsten Forschungsgebiete ist deshalb im Augenblick, wie es Ameisen gelingt, Konflikte zu lösen. Wie vermitteln diese Winzlinge zwischen den Einzelinteressen von Königinnen und Arbeiterinnen einerseits und dem, für die Arterhaltung entscheidenden Gesamtinteresse des Staates?

Reglose Wächter

Mit Rufen warnen sich Erdmännchen, Kleinräuber in den Savannen und Halbwüsten des südlichen Afrika, wenn sich gefährliche Fressfeinde nähern. Auch diese knapp ein Kilo schweren Säuger leben sozial – in Kolonien von bis zu 50 Tieren.

Erdmännchen sitzen auf einem Felsen (Foto: SWR, SWR - Miriam Staber)
In den unterirdischen Bauten der Erdmännchen leben, wie in Ameisennestern, zwei Generationen "unter einem Dach"

Sie kamen zu ihrem Namen, weil bei der Nahrungssuche immer einige von ihnen im wörtlichen Sinn "Wache stehen" und nach Raubtieren Ausschau halten: hochaufgerichtet, auf die Hinterbeine und den Schwanz gestützt, reglos wie Wachsoldaten der Spezies Homo sapiens – Sinnbilder angespannter Konzentration.

Regierung der Erdmännchen

Manches im Zusammenleben der Erdmännchen erinnert entfernt an Insektenstaaten. In ihren unterirdischen Bauten leben, wie in Ameisennestern, zwei Generationen "unter einem Dach". Und ihre Familienverbände werden von einem dominanten Paar "regiert", das fast alle Nachkommen zeugt.

Für Verhaltensforscher sind Erdmännchen aber vor allem spannend, weil sich alle älteren Jungtiere einer Kolonie aufopferungsvoll um Neugeborene kümmern – auch das ein Anklang an die Arbeitsteilung in Insektenstaaten und übrigens auch in Biberburgen.

Weitergabe des Wissens

Erdmännchen zählen zu den Tierarten, die Erfahrungen von Generation zu Generation weitergeben, die ihre Jungtiere "unterrichten", wenn man so will. Ein Großteil ihrer Beutetiere ist für die Kleinräuber schwierig zu fangen, Eidechsen z. B., die sich blitzschnell bewegen, oder Skorpione der Gattung Parabuthus, die ihr, selbst für Menschen, tödliches Nervengift bis zu einem Meter weit spritzen können. Wie man mit solcher "Problembeute" umgeht, lernen heranwachsende Erdmännchen Schritt für Schritt von ihren älteren Geschwistern.

Auch Schimpansen geben soziale Gepflogenheiten und erworbenes Wissen bis hin zu Werkzeuggebrauch an ihre Nachkommen weiter. Ein Lehren und Lernen also, das bis vor einigen Jahren als kulturbildende und damit ausschließlich menschliche Errungenschaft galt. Deshalb gelten sie, wie der Mensch, als Kulturwesen.

Oft keine Altenpflege

Primaten unterscheiden nicht, wie Menschen, zwischen Altersgruppen oder gar Jahrgängen. Für sie zählt nur der Unterschied zwischen Erwachsenen und den noch hilflosen Jungtieren, um die sich Ältere, Erfahrenere kümmern müssen.

Verhaltensforscher haben beobachtet, dass sich Elefanten und Hyänen sogar ein Stück weit um kranke oder gebrechliche Artgenossen kümmern. Doch ausgerechnet unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, geht jede Solidarität unter den Generationen ab, so etwas wie Altenpflege gibt es hier nicht.

Wie kommt es zum Tod

Wie gehen Tierleben schließlich zu Ende? Nach wenigen Wochen, wie bei vielen Fliegenarten – oder nach deutlich mehr als 100 Jahren, wie bei der Schildkröte Gopherus agassizii in den Halbwüsten des amerikanischen Südwestens. Wann immer die Lebenskräfte nachzulassen beginnen.

Schimpansen-Gruppe (Foto: Colourbox, Model Foto: Colourbox.de -)
Bei Schimpansen ist es sehr wichtig, wie gescheit sie in der Koalitionsbildung sind

Das steif gewordene Orang-Utan-Weibchen, das nur noch unter großen Mühen bis in die sicheren Baumkronen klettern kann, hält sich länger und länger am Boden auf und wird schließlich von Raubtieren überwältigt. Der Seelöwe, der zu schwach zum Jagen ist, verdurstet binnen weniger Tage, weil er seinen Flüssigkeitsbedarf nicht mehr aus gefangenen Fischen decken kann.

Politik der Gruppenwahl

Das Erdmännchen, das mit seiner Kolonie nicht mehr mithalten kann, überlebt alleine, in der an Raubtieren reichen Kalahari, bestenfalls ein paar Tage. Ältere Ameisen werden in aller Regel bei der Arbeit gefressen.

Den Königinnen der Insektenstaaten entsprechen in den meist loseren Gruppen der Menschenaffen die sogenannten Alpha-Männchen – die "Platzhirsche" auf gut Deutsch. Die bulligen Silberrücken der Gorillas sammeln einen Harem von bis zu zehn Weibchen um sich, mit denen sie die weitaus meisten Nachkommen ihrer Sippe zeugen. Doch solchen Paschas ist, wie häufig im Tierreich, nur eine kurze Blütezeit beschieden.

Es gibt aber Ausnahmen. Zum Beispiel bei Schimpansen ist es sehr wichtig, wie gescheit sie in der Koalitionsbildung sind. Dann kann sich auch ein nicht mehr so kräftiges Tier noch ziemlich lange an der Spitze durchsetzen.

Produktion 2006

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