Regeln und Vorschriften gelten überall auf der Welt. In der Schweiz ist es noch aufgeräumter als hierzulande. Und die Amerikaner legen bei privaten Dinnerpartys auch großen Wert auf Pünktlichkeit und sie achten noch mehr als die Deutschen auf ordentliches Schlangestehen. Doch besonders die Ordnung der Deutschen beschäftigt die Menschen aus dem Ausland. Manche bewundern diese Ordnung. Dann gibt es welche, die sagen: Die Deutschen seien doch schon viel lockerer geworden. Vielleicht habe sich aber auch der Blick von außen verändert: Man schaue nicht mehr so streng auf Deutschland. Wieder andere fühlen sich durch diese deutsche Ordnung einfach nur gegängelt.
Regeln für gutes Zusammenleben
Was ausländische Mitmenschen mit einem ernsthaften Augenzwinkern betrachten, ist für viele Einheimische ein Grundprinzip des Zusammenlebens. Soziale Regeln, Gesetze und Vorschriften prägen unseren Alltag, von der Hausordnung über die Benutzungsordnung zur Verfassungs- und Rechtsordnung. Projekte werden nach Plan entworfen und folgen bestimmten Mustern, es gibt eine Bau- und eine Geschäftsordnung. Auch der Lebenslauf vollzieht sich entlang von Ordnungen in Schule, Ausbildung, Beruf.
Doch die Außenwahrnehmung der deutschen Ordnung ist voller Widersprüche. Dr. Gabriele Gauler, die Leiterin des Berliner Goethe-Instituts, erinnert sich an eine Umfrage aus dem Jahr 2010: „Die Umfrage hieß "Die Deutschland-Liste". Das war in dem Jahr nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, als das Image von Deutschland nicht so toll war in Europa. Man hat neidisch auf Deutschland gekuckt, weil das Land relativ gut aus der Krise gekommen ist.“ Gauler arbeitete 2010 in Budapest und sie weiß noch sehr gut, was rund 600 Befragte aus ganz Ungarn damals äußerten: „Die Antwort auf 'Was gefällt Ihnen nicht an den Deutschen?' war: die Pedanterie. Umgekehrt war auf 'Was gefällt Ihnen aber am besten an den Deutschen?' die Antwort: die Ordnung, die Organisiertheit.“ Eine Ambivalenz auf mehreren Ebenen. Und auf beiden Seiten.
Die Ordnung wird ausbalanciert und man hält sich nicht nur stoisch an die Vorschriften. Vielleicht ist dies genau das, was viele Menschen aus dem Ausland hier als "neues Pflänzchen" entdecken, als eine neue deutsche Emanzipation inmitten all der Ordnung. Der Soziologieprofessor Hartmut Rosa spricht von einem Verlust von Resonanz: Hinter dem starken Wunsch der Deutschen nach möglichst viel Ordnung stecke der Wunsch, die Dinge kalkulierbar, wasserdicht, abgesichert und verfügbar zu machen. Vieles ist dann wie in einem Ordner abgeheftet und greifbar und kann effizient abgearbeitet werden. Strikte Regeln können aber auch das Miteinander der Menschen "verumständlichen", so Rosa.
Zu viel Ordnung lähmt das soziale Leben
Dann legt sich die Ordnung oft wie Mehltau auf das soziale Leben, erklärt Hartmut Rosa. Man begegnet sich nicht von Mensch zu Mensch. Oder in den Worten des Soziologen: Es gibt keine Resonanz, man berührt sich nicht gegenseitig. Besser wäre mehr Offenheit – Noch mehr auf andere Personen eingehen und reagieren, Neues einbeziehen und flexibel handeln, statt sich stur auf das Erledigen von Formalitäten zu konzentrieren. Vor allem dann, wenn Menschen mit Menschen zu tun haben. Wenn es um Bildung und Erziehung geht. Oder in Krankenhäusern und in der Pflege.
Pünktlichkeit im Arbeits- und Geschäftsleben. Der niederländische Kulturwissenschaftler Geert Hofstede hat viele Jahre die Verhaltensweisen in international tätigen Unternehmen untersucht. Er sieht die Deutschen hier im Mittelfeld. In Russland oder Griechenland werde noch mehr Wert auf Pünktlichkeit gelegt – und vor allem in Japan ist sie besonders wichtig. Pünktlich sind diejenigen, die Unsicherheiten vermeiden wollen – Hofstedes Kulturmodellen zufolge können die Menschen in Ostafrika, Asien, Großbritannien oder Schweden mit offenen und unsicheren Situationen besser umgehen.
Smalltalk ist verpönt
Und dann das alte Problem mit dem Smalltalk – die Deutschen wollen nicht erst zwanghaft und sinnfrei über das Wetter reden, sondern lieber gleich zur Sache kommen. Es ist, als vermindere allzu geordnetes Denken das Wachsein und die Verhältnismäßigkeit und das Gespür für die Situation. Sich besser erst die Zeit und Herzlichkeit zum Kennenlernen und Anwärmen geben, dann aber sachlich und stringent die Geschäftsverhandlungen leiten. Sonst nisten sich Höflichkeit und Korrektheit an der falschen Stelle ein und führen zu Missverständnissen und Unmut, nicht aber geradewegs zum Ziel.

Ordnung erzeugt Konventionen - Chaos erzeugt Kreativität
Je nach Situation ungebunden zu entscheiden, zu improvisieren und die Dinge auf sich zukommen zu lassen, empfinden manche als chaotisch und zu unberechenbar. Sie sehen darin die Gefahr, zu scheitern, und setzen alles daran, dies nach Möglichkeit zu verhindern. Stattdessen handeln sie lieber zielgerichtet und nach Plan. Tatsächlich können jedoch beide Wege zum Erfolg führen. Das zeigte eine US-Studie aus dem Jahr 2013. Das Forscherteam fasste zusammen: Ordnung erzeugt ein konventionelleres und angepassteres Verhalten, Chaos und Unordnung machen kreativer – und beide Varianten können je nach Zielvorgabe auch zu diesem oder jenem Ziel führen.
Ordnung ist das halbe Leben – und halb geordnet darf das Leben durchaus sein, es hat sich ja bereits etwas geändert in Deutschland. Viele finden diese halbe Ordnung sympathisch, und sie färbt auch ab. Je internationaler das Leben wird, desto mehr verweben sich auch die verschiedenen Kulturmodelle. Darin spielt dann wohl auch 'die neue deutsche Ordnung' ihre ganz eigene Rolle.