Der Vortrag von Ulrich Sarcinelli auf einen Blick:
Gegenüber der euphorischen Vorstellung, die Digitalisierung führe in eine Art Demokratie 4.0, eine "Smart Democracy", ist Skepsis angebracht. Das Internet erleichtert zwar den Informationszugang und den kommunikativen Austausch innerhalb und mit der Politik. Das Netz kann aber auch zu einem "Stressfaktor" werden.
Mehr und mehr wird die eher zeitintensive demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung einem medien- und netzgetriebenen Reiz-Reaktions-Druck ausgesetzt, nicht selten im Twitter-Modus. Von den nationalen und internationalen Verwerfungen infolge der morgendlichen Tweets des amerikanischen Präsidenten ganz zu schweigen.
Der Soziologe Hartmut Rosa warnt davor, dass die Dynamisierung in der Moderne zu einer – wörtlich – "progressiven Verlangsamung demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung" führe. Man kann auch sagen: zu einem rasenden Stillstand. Es passiert scheinbar viel, aber es bewegt sich nichts!
Die politische Welt und die technologisch-ökonomische Welt entwickeln sich nicht nur in unterschiedlichem Tempo. Sie bewegen sich auch auseinander. Damit ist offensichtlich, dass die "Kultur der Digitalität" anderen Gesetzen folgt als die politische Kultur im liberalen Rechtsstaat.
Es ist zu alarmistisch, vor einem "Kommunikationsinfarkt" zu warnen und gleich von "Empörungsdemokratie" (Pörksen) zu sprechen. Solche pauschalen Zeitdiagnosen mögen zwar talkshow-tauglich sein. Doch lenken sie von der politischen Aufgabe ab, eine neue Legitimationsarchitektur für die digitale Kommunikationsgesellschaft zu entwerfen.
Es geht um eine Politik im Netz und für das Netz; eine Politik, welche die Grundlagen der "offenen Gesellschaft" schützt und liberale Verfassungsstaatlichkeit nicht gegen, sondern in und mit der digitalen Welt sichert.
Prof. Dr. em. Ulrich Sarcinelli ist Politikwissenschaftler an der Universität Koblenz-Landau