Wir sind nie allein. Selbst wenn wir uns entschließen sollten, Menschen aus dem Weg zu gehen, uns völlig in die Einsamkeit zurückziehen – eines bleibt uns immer: Einzeller, die mit uns leben, in uns, auf uns. Nach einer neuen Schätzung beherbergt jeder von uns rund 38 Billionen Bakterien. Mehr als wir selbst Körperzellen haben. Auf der Haut, im Mund, in Nase, Augen und Ohren, in der Vagina und auf dem Penis – und, vor allem: im Darm. Je weiter weg vom Magen, desto mehr.
Im Dickdarm tummeln sich bis zu tausend verschiedene Bakterienstämme. Etwa Streptokokken, die im Darm keine Krankheitserreger sind, sondern nützliche Keime. Außerdem Milchsäurebakterien, Clostridien und viele weitere Einzeller mit so schönen Namen wie Sutterella oder Christensenella.
Ohne sie geht nichts
Die Einzeller sind für uns unentbehrlich. Und sie tun mehr, als unsere Nahrung in nützliche Bestandteile zu zerlegen. Schon das würden wir nicht allein schaffen. Das ist lange bekannt. Doch in den letzten Jahren haben Forscher außerdem entdeckt, dass die Mikroorganismen im Darm auch mit unserem Gehirn in Verbindung stehen.

Krankheiten über den Darm diagnostizieren, vielleicht sogar zu behandeln: Das sind die Ziele von Forschern - und auch von Unternehmern. Zum Beispiel gibt es tatsächlich Hinweise darauf, dass Darmkrebs-Patienten eine andere Darmflora haben als Gesunde.
Die Forscher hoffen auch, den Ursachen anderer häufiger Erkrankungen des Darms auf die Spur zu kommen. Zum Beispiel beim sogenannten Reizdarm, für den Ärzte beim Patienten in der Regel keinen körperlichen Grund finden können.
Proben für die Alzheimerforschung
Für eine Studie suchen Tübinger Forscher Teilnehmer. Dabei soll die Frage geklärt werden: Verändert sich die Darmflora, wenn ein Mensch an Alzheimer erkrankt? Und lassen sich im Darm möglicherweise schon Anzeichen feststellen, bevor die Krankheit ausbricht?
Das könnte sein, denn bei Mäusen haben Forscher Hinweise darauf gefunden. Aber bei Menschen wissen sie es nicht. Der Initiator dieses Projekts ist Christoph Laske. Der Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Tübingen leitet die Sektion Demenzforschung.

Ob die Alzheimer-Krankheit jemals heilbar sein wird, kann bisher niemand sagen. Denn ihre Ursache ist unbekannt. Aber es könnte sein, dass die Darmbakterien mitspielen, wenn die Demenz sich entwickelt. Deshalb will Christoph Laske das Mikrobiom von Gesunden, von Menschen mit leichten Gedächtnisstörungen und von Alzheimer-Patienten miteinander vergleichen.
Die Darm-Hirn-Schranke
Besonders faszinierend ist, dass die Einzeller im Darm einen Einfluss auf das Gehirn haben könnten. Hinweise darauf häufen sich, und sie kommen nicht nur aus der Alzheimer-Forschung. Auch bei der Parkinson-Krankheit wissen Forscher schon länger: Patienten haben etwas andere Bakterien im Darm als gesunde Menschen. Gehirn und Darm unterhalten sich ständig. Und zwar über den sogenannten Vagusnerv. Er gehört zum unwillkürlichen Nervensystem, das wir nicht bewusst kontrollieren können.
Der Vagusnerv verbindet die Nervengeflechte im Darm und im Gehirn. Er steht im Zentrum dessen, was Forscher Darm-Hirn-Achse nennen. Über ihn werden Signale hin- und hergeschickt, zum Beispiel: „Ich habe Hunger“ oder „Ich muss auf die Toilette“.

Diese Direktnachrichten sind nicht die einzige Ebene der Darm-Hirn-Achse, erklärt Christoph Laske von der Universität Tübingen, denn Bakterien im Darm schütten auch verschiedene psychoaktive Botenstoffe aus.
Gute Bauchgefühle
Zum Beispiel solche, die Glücksgefühle entstehen lassen. Inzwischen interessieren sich immer mehr Psychiater für die Achse zwischen Darm und Gehirn und für die Rolle der Bakterien im Verdauungstrakt, auch Thomas Baghai, Oberarzt am Universitätsklinikum Regensburg.
Baghai behandelt vor allem Menschen mit depressiven Erkrankungen. Er will klären: Haben die möglicherweise etwas mit den Darmbakterien zu tun? Ist die Darm-Hirn-Achse beteiligt, wenn Depressionen entstehen? Auch darauf deuten Tierversuche hin. Doch bei Menschen fehlen bisher solche Daten.

Sollte der Regensburger Arzt tatsächlich bei der Depression Unterschiede im Mikrobiom bei Patienten finden, heißt das aber nicht, dass diese Abweichung die Krankheit verursacht. Sie könnte auch eine Folge der Erkrankung sein.
Ernährung und Depression
Doch Forschungsprojekte wie das an der Uni Regensburg wecken bei Ärzten und Patienten große Hoffnungen. Denn vielleicht tragen sie dazu bei, Krankheiten wie Depressionen zu lindern oder ganz zu verhindern, indem man die Zusammensetzung der Darmflora beeinflusst. Zum Beispiel durch eine Umstellung der Ernährung.
Doch bisher können Ärzte bei keiner Krankheit auf wissenschaftlicher Grundlage empfehlen, wie man die Einzeller im Darm günstig beeinflusst. Schon deshalb, weil noch niemand sagen kann, welche Zusammensetzung optimal wäre. Trotzdem werden in den Apotheken zahlreiche, oft recht teure Produkte angeboten. Zum Beispiel für die sogenannte Darmsanierung bei Menschen, die Antibiotika genommen haben.
Nutzen von Darmsanierungen wenig erforscht
Dass da viele Bakterien absterben, daran zweifelt niemand. Aber es fehlen Daten darüber, welche Einzeller man zuführen sollte. Auch wie viele und wie lange, ist bis jetzt nicht untersucht worden. Deshalb bezahlen die gesetzlichen Krankenkassen solche Produkte nicht. Und über die sogenannten Probiotika gibt es ebenfalls kaum Studien.
Doch dass der Darm und seine Bakterien mit vielen Krankheiten zusammenhängen, darauf hat die Forschung inzwischen zahlreiche Hinweise. Ob das auch bei Demenz, Autismus, Depression und Multipler Sklerose so ist, das versuchen Wissenschaftler derzeit herauszufinden. Zurzeit ist Inventur angesagt: Die Forschung macht eine Bestandsaufnahme, was sich da genau tummelt.