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Autoimmunerkrankungen – Warum der Körper gegen sich selbst kämpft

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Margrit Braszus
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Anja Braun
Anja Braun, Reporterin und Redakteurin SWR Wissen aktuell. (Foto: SWR, Christian Koch)

Autoimmunerkrankungen nehmen zu. Inzwischen verstehen Mediziner immer besser, wie und warum sie entstehen.

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Was veranlasst den Körper dazu, gegen das eigene Immunsystem zu kämpfen?

Die Ursachen für die Autoimmunerkrankungen sind vielfältig. Mediziner gehen davon aus, dass es nicht einen einzelnen Erreger gibt, sondern viele Auslöser, die zusammen kommen.

  • Oft ist die genetische Veranlagung ausschlaggebend. Familiäre Häufungen sind bei Rheuma, Morbus Crohn und Multiple Sklerose bekannt.
  • Neben erblichen Faktoren spielt auch auch der Lebensstil eine Rolle. Hierzu gehört vor allem die Ernährung, da die Darmflora das Immunsystem maßgeblich beeinflusst.
  • Neben der genetischen Vorprägung und dem Lebensstil, insbesondere der Ernährung, stehen vor allem Umweltfaktoren unter Verdacht, die Immunabwehr überzustrapazieren. Internationale Studien lassen den Schluss zu, dass chemische Stoffe Autoimmunerkrankungen auslösen können. Als Auslöser für eine gestörte Immunabwehr nennt das Berliner Institut für medizinische Diagnostik
Bunte Gefäße mit Giftstoff-Aufklebern versehen. (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Zu den Faktoren, die eine Autoimmunerkrankung auslösen können, gehören auch Umweltfaktoren. Insbesondere chemische Stoffe stehen im Verdacht.

Gifte als Auslöser für Autoimmunkrankheiten

Konkret sind folgende Zusammenhänge bekannt:

  • Menschen, die am Arbeitsplatz mit Silikonstaub oder Mineralöl in Berührung kommen, könnten dadurch Gelenkrheuma bekommen.
  • Durch Zusätze in Kosmetika könnte systemischer Lupus mit Rötungen auftreten.
  • Weichmacher in Plastik könnten die Schilddrüsenkrankheit Hashimoto auslösen. 
  • Auch Vitamin-D-Mangel durch zu wenig Sonneneinstrahlung kann das Risiko für eine Autoimmunerkrankung erhöhen, wie auch bestimmte Infekte.

Betroffene bemerken jedoch erst Jahre oder Jahrzehnte später die Auswirkungen. Denn die ersten Antikörper, die gegen sich selbst gerichtet sind, bilden sich oft schon Jahre oder Jahrzehnte vorher, bevor die eigentliche Autoimmunerkrankung zum Ausbruch kommt.

Autoimmunerkrankungen brechen häufig in besonders ereignisreichen Phasen des Lebens aus

Oft sind die Betroffenen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren. Ausgerechnet, wenn Patienten gerade viel um die Ohren haben, beruflich oder privat stark gefordert sind, treten bei vielen die erste Schübe auf.  Bei der Schilddrüsenerkrankung Hashimoto Thyreoiditis beispielsweise spielt Stress eine große Rolle. Deshalb ist es wichtig, negative Belastung möglichst zu vermeiden oder abzubauen, weiß Hashimoto-Experte Joachim Feldkamp vom Uniklinikum Bielefeld:

Patienten können eine ganze Menge machen: Sie sollten versuchen, möglichst stressfrei zu leben, sich nicht zu viel äußerem Druck hinzugeben, ihr Leben vielleicht etwas strukturierter zu planen. Viele Patienten und Patientinnen haben Schlafstörungen. Hier ist wichtig, eine gewisse Schlafhygiene zu haben und bestimmte Rituale einzuhalten, z. B. abends nicht zu lange im hellen Licht zu sitzen. Auch Entspannungstechniken wie Yoga oder Meditation helfen.

Negativer Stress ist ein sicherer Einflussfaktor für Krankheitsschübe 

Die Autoimmunerkrankung Lupus - also entzündliches Rheuma - trifft häufig junge Frauen. Und zwar oft vor dem Abitur, wenn der Stress in der Oberstufe zunimmt, berichtet der Mainzer Rheumatologe und Autoimmunexperte. Dieser Negativstress löst dann Schübe aus. Fachleute sprechen hier von Neuro-Bio-Psycho-Immunologie: das Zusammenwirken zwischen seelischen und körperlichen Faktoren beeinflusst, ob und wie die Erkrankung tatsächlich stabilisiert werden kann.

Krebs und Autoimmunerkrankung können sich gegenseitig bedingen

Auch eine Tumortherapie lässt das Abwehrsystem gelegentlich außer Kontrolle geraten. Das haben US-Forscher herausgefunden. Im Blut von Krebs-Patienten fanden sich Autoantikörper. Diese hatte der Körper aus Versehen entwickelt, weil sich die Tumorzellen und die Zellen eines wichtigen körpereigenen Proteins in ihrer Struktur ähnelten. Das Immunsystem hatte sie verwechselt. Diese Antikörper lösten dann wiederum Sklerodermie aus - auch eine Autoimmunkrankheit. Auch Andreas Schwarting bestätigt, dass bei Autoimmunerkrankungen eine gehäufte Rate an Tumorerkrankungen auftreten können.

Frau liegt mit Kopftuch im Bett und schaut aus dem Fenster (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Krebspatienten leiden häufiger als andere Menschen auch an Autoimmunerkrankungen.

Autoimmunerkrankungen kann man nicht heilen, viele aber gut behandeln

Autoimmunerkrankungen treten in der Regel in Schüben auf. Es kommt immer wieder zu Entzündungen. Die Erkrankungen verlaufen chronisch und sind unheilbar. Viele lassen sich mittlerweile aber gut behandeln: Kortison bremst die typischen Entzündungsprozesse, Schmerzmittel mit anti-rheumatischen und entzündungs-hemmenden Wirkstoffen lindern weitgehend Beschwerden oder Schmerzen. 

Bei manchen Autoimmunerkrankungen scheint es jedoch nichts zu geben, was hilft. Zum Beispiel bei der Verhärtung des Bindegewebes, der Sklerodermie.

Sklerodermiepatient Niels litt unter einer schnell voranschreitenden Form der Sklerodermie. Nach dreieinhalb Jahren hatte er etwa sechzig Prozent seiner Beweglichkeit verloren. Er konnte kaum noch sprechen, essen und schlucken. Das Bindegewebe wurde immer härter und schnürte ihn wie in ein Korsett ein. Sein Oberköper wurde dadurch nach vorne gekrümmt, er konnte sich nicht mehr aufrichten, nicht mehr stehen, nicht liegen, nicht laufen- am Ende blieb der Rollstuhl. Da Medikamente nicht mehr helfen konnten, verschlechterte sich sein Zustand lebensbedrohlich. Niels beschloss, in der Rheumabteilung des Universitätsklinikums Tübingen ein sogenanntes Immunreset durchführen zu lassen.  

Manchmal hilft nur noch ein Immunreset

Diese Therapie versucht, das immunologische Gedächtnis zu zerstören, um dann die Autoimmunerkrankung wirklich unterbinden zu können.

Das Immunreset wird dabei gut vorbereitet. Zuerst wird ein Backup für den Patienten angelegt. Mit einer zweitägigen Chemotherapie wird das Knochenmark angeregt, mehr Stammzellen zu bilden. Sie werden dann zehn Tage später mit einem Spezialgerät herausgefiltert. Dann werden diese Stammzellen eingefroren. Anschließend erfolgte der eigentliche Reset:  Fünf Tage lang wurde Niels Schneider eine hochdosierte Chemotherapie durchgeführt, mit einer Mischung aus Zellteilungshemmern und Antikörpern. So wird sein Immunsystem zurück auf Null gesetzt. Am letzten Tag wurden die eingefrorenen Stammzellen wieder aufgetaut und in sein Knochenmark zurück gegeben. Mit dem Ziel, dass sie sich dort wieder teilen und ein neues Blutsystem, und damit auch ein neues Immunsystem aufbauen.

Das Imunreset ist sehr risikoreich, man kann auch dabei sterben

Manche Patienten sterben nach der Stammzellentherapie. Doch überwiegend verläuft die Therapie erfolgreich. Gut untersucht ist das bei Multiple Sklerose-Kranken in den USA. Bei tausenden MS-Patienten wurde in einer Klinik in Chicago die Therapie durch Immunreset durchgeführt. Mehr als drei Viertel der Patienten blieben in den ersten vier Jahren danach ohne Rückfall, die meisten konnten wieder besser gehen und flüssiger sprechen - ergab eine amerikanische Studie 2015. Kein MS-Medikament sei derart durchschlagend, berichteten Wissenschaftler.

Doch während die Stammzellen-Therapie bei Multipler Sklerose in Amerika inzwischen vor dem Durchbruch steht, ist sie in Deutschland bei Autoimmunerkrankungen bis jetzt nur in Härtefällen zulässig, wenn nachweislich kein Medikament mehr hilft.

Niels war so ein Härtefall. Die Immunreset-Therapie hat die Sklerodermie-Erkrankung bisher gestoppt, der 43 jährige braucht heute keinen Rollstuhl mehr.

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