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"Asoziale" und "Berufsverbrecher" – Die verleugneten Nazi-Opfer

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Peter Bratenstein
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Peter Bratenstein
Candy Sauer

Als sogenannte "Asoziale" und "Berufsverbrecher" verfolgten die Nazis Menschen, die nicht der sozialen Norm entsprachen. Erst im Frühjahr 2020 erkannte der Deutsche Bundestag die Menschen offiziell als Opfer an.

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Wen verfolgten die Nazis als sogenannte "Asoziale" und "Berufsverbrecher"?

Bettler, Fürsorgeempfängerinnen, Wohnungslose und Prostituierte gehörten zu den Menschen, die von den Nationalsozialisten als "asozial" stigmatisiert und verfolgt wurden. Genau war der Begriff "asozial" von den Nationalsozialisten aber nicht definiert. Jederzeit konnte er auf neue Gruppen ausgeweitet werden, die in der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" keinen Platz hatten.

Als "Berufsverbrecher" galt eine Person, die innerhalb von fünf Jahren mindestens drei Mal zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Zentrales Kriterium war außerdem, dass die Delikte aus "Gewinnsucht" begangen wurden. Damit meinten die Nationalsozialisten vor allem kleinere Eigentumsdelikte wie Diebstahl, Betrug oder Hehlerei.

"Asoziale" und "Berufsverbrecher" gibt es nicht

Den "Asozialen" und "Berufsverbrecher", das ist ganz wichtig zu betonen, gibt es nicht. Es handelt sich bei den Begriffen um Fremdzuschreibungen, Konstruktionen und Nazi-Terminologie. Die Verwendung der Begriffe, selbst in Anführungszeichen, ist deswegen umstritten. Gleichzeitig gibt es keine Selbstbezeichnung der Betroffenen, die stattdessen übernommen werden könnte.

Warum wurden sogenannte "Asoziale" und "Berufsverbrecher" verfolgt?

Die Verfolgung liegt in den rassenhygienischen Vorstellungen der Nationalsozialisten begründet. Vermeintlich "asoziales" Verhalten erklärten die Nazis durch eine angeblich "minderwertige Erbanlage". Mithilfe von "erbbiologischen Maßnahmen" sollte eine "Schädigung" – so die Nazi-Terminologie – der "erbgesunden Volksgemeinschaft" verhindert werden. Für die Betroffenen hatte das schwerwiegende Folgen. Sie wurden amtlich registriert und polizeilich überwacht. Viele mussten Zwangsarbeit verrichten, wurden in Arbeitshäusern interniert, zwangssterilisiert oder sogar in Konzentrationslagern ermordet.

Ähnlich verhielt es sich bei den als "Berufsverbrechern" stigmatisierten Menschen. Sie besaßen in der Vorstellung der Nazis "kriminelle Gene". Um weitere Delikte zu verhindern, nahmen die Nazis diese vermeintlichen "Tätertypen" in "Vorbeugehaft" und internierten sie in Konzentrationslager. Mit rechtsstaatlichen Prinzipien hatte das nichts zu tun. Die Menschen wurden präventiv ins KZ gebracht, ohne dass sie von der Polizei einer Straftat überführt werden konnten.

Die Nazis hatten die irre Idee, man könne eine deutsche Gesellschaft schaffen, ohne Kriminalität, ohne abweichendes Verhalten, ohne Menschen, die sozial delinquent oder kriminell sind. Solche Menschen sollten "ausgemerzt" werden.

Deutlich zeigen sich die die rassenhygienischen Vorstellungen der NS-Regierung in einer Rede von Walter Groß, Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, auf einer Kundgebung in Linz im Frühjahr 1940:

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Wie viele Menschen wurden als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" in KZ inhaftiert?

Bis heute gibt es keine genauen Zahlen, wie viele Menschen als sogenannte "Asoziale" und "Berufsverbrecher" in den Konzentrationslagern interniert waren. Schätzungen gehen von ca. 70.000 Menschen aus, die gezwungen wurden, den schwarzen oder grünen Winkel zu tragen. Auch die genauen Todeszahlen sind unbekannt. Einzelne Fallstudien zeigen jedoch, dass die Todesrate insbesondere unter den als "asozial" stigmatisierten Menschen sehr hoch war.

Rosen auf Stolpersteinen für Wohnungslose am Berliner Alexanderplatz. Das Projekt des Künstlers Gunter Demnig erinnert u.a. an Menschen, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten als "asozial" verfolgt wurden. Der Alexanderplatz war in den 1930ern beliebter Aufenthaltsort für Wohnungslose. Hier befand sich das Restaurant Aschinger, das kostengünstiges Essen anbot. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / NurPhoto | Markus Heine)
Rosen auf Stolpersteinen für Wohnungslose am Berliner Alexanderplatz. Das Projekt des Künstlers Gunter Demnig erinnert u.a. an Menschen, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten als "asozial" verfolgt wurden. Der Alexanderplatz war in den 1930ern beliebter Aufenthaltsort für Wohnungslose. Hier befand sich das Restaurant Aschinger, das kostengünstiges Essen anbot.

Warum kam es nach 1945 nicht zur offiziellen Anerkennung?

Nach 1945 bestand der "Asoziale" bzw. der "Berufsverbrecher" sowohl in der Sprache als auch in den Köpfen der Menschen fort. Im Gegensatz zu den politisch, religiös und rassistisch Verfolgten wurden sie nicht als Opfer anerkannt und erhielten keinerlei Entschädigung. Sie galten als zu Recht von den Nazis verfolgt.

Ein weiterer Grund für die ausbleibende Anerkennung als Verfolgte war die Ablehnung durch andere Opfergruppen. Schon in der NS-Zeit empfanden es vor allem die politischen Häftlinge zum Teil als gezielte Demütigung der Nazis, dass sie zusammen mit angeblich "Asozialen" und "Berufsverbrechern" interniert wurden. Nach 1945 wiederum gab es keinen Opferverband, der sich für die als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" verfolgten Menschen einsetzte. Im Gegenteil: Die Menschen wurden gezielt aus den Verbänden ausgeschlossen, obwohl einige versuchten, sich aktiv einzubringen. Die meisten Überlebenden schwiegen jedoch aus Scham.

Wie kam es 2020 zur Anerkennung durch den Deutschen Bundestag?

Dass es im Frühjahr 2020 zur offiziellen Anerkennung durch den Bundestag kam, ist dem Angehörigen Frank Nonnemacher zu verdanken, der zusammen mit jungen Forschenden eine Online-Petition startete. Nach Verhandlungen im Ausschuss für Kultur und Medien stimmten am 13. Februar alle Fraktionen, außer der AfD, dem Antrag der großen Koalition zu. Der zentrale Satz:

Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet.

Noch immer kein Platz in der deutschen Erinnerungskultur

Für Frank Nonnenmacher bleibt auch nach dem Bundestagsbeschluss noch einiges zu tun. Zusammen mit der Aktivistin Ines Eichmüller und anderen Nachkommen gründete er im Januar 2023 den "Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus". Der Verband bietet Angehörigen die Möglichkeit des Austauschs und setzt sich dafür ein, dass alle bisher noch nicht wahrgenommen Opfergruppen einen Platz in der deutschen Erinnerungskultur erhalten. Sie fordern unter anderem ein zentrales Mahnmal in Berlin sowie eine vollständige Umsetzung des Bundestagsbeschluss vom 13. Februar 2020. Insbesondere die beschlossenen Forschungen zu den Biografien der Verfolgten und den beteiligten Verfolgungsinstanzen sollen endlich finanziert werden.

Wie geht es nun konkret weiter? Am 11. Dezember 2023 stellte die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag eine "kleine Anfrage". Sie wollte wissen, wie der Bundestagsbeschluss zur Anerkennung der sogenannten "Asozialen" und "Berufsverbrecher" als Opfer des Nationalsozialismus umgesetzt werde.

Am 3. Januar 2024 antwortet die Bundesregierung. Sie weist unter anderem darauf hin, dass sich die KZ-Gedenkstätten jetzt stärker dieser Opfergruppe widmen und dass ein modulares Ausstellungskonzept erarbeitet werde. Die Ausstellung solle ab Ende September 2024 in Berlin zu sehen sein, gefolgt von Flossenbürg ab 2025. Weitere Orte sollen folgen. Einen ersten Eindruck und mehrere Biografien zum Nachlesen bietet die Website "Die Verleugneten". Zusätzliche Fördermittel zur Erforschung der Thematik hält die Regierung erklärtermaßen nicht für notwendig.

Der Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus Vevon zeigt sich in einer Stellungnahme enttäuscht. Die Antwort der Bundesregierung zeige, dass faktisch kaum etwas passiert sei. Der Bundestagsbeschluss von 2020 werde somit größtenteils rückwirkend zur Makulatur erklärt.

SWR 2023 / 2024

Literatur

  • Carl Schrade: Elf Jahre. Ein Bericht aus deutschen Konzentrationslagern, Göttingen 2014
  • Frank Nonnenmacher: DU hattest es besser als ICH. Zwei Brüder im 20. Jahrhundert. Bad Homburg 2014
  • Daniel Haberlah: Als "Asoziale" nach Ravensbrück. Das kurze Leben der Irmgard Plättner, Schellerten 2021
  • Alfons L. Ims: Eine "asoziale" Pfälzer Familie. Wie in der NS-Zeit aus einem Sozialfall moralische Minderwertigkeit gemacht wurde, Ludwigshafen am Rhein 2022
Neckargemünd

Alfons Ludwig Ims erzählt die Geschichte seiner Familie Asoziale Lebensart? – Eine Familiengeschichte aus der Pfalz

Alfons Ludwig lms (73) ist in armseligen Verhältnissen in Kaiserslautern aufgewachsen und hat sich nach oben gearbeitet, war Entwicklungshelfer. Lang haben sich die Vorurteile der Nazi gehalten, „asozial“ zu sein.

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14.3.1940 NSDAP-Funktionär Walter Groß über Rassenpolitik im Krieg

14.3.1940 | "Rassenpolitik im Krieg" – zu diesem Thema hält Walter Groß, Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, einen Vortrag auf einer Kundgebung in Linz. Es ist der 14. März 1940, anwesend sind Vertreter der Partei und der Wehrmacht. Groß propagiert die Zwangssterilisation von sogenannten "Erbkranken" und "Asozialen". Deutlich zeigen sich hierbei die rassenhygienischen Vorstellungen der NS-Regierung. Bereits im Juli 1933 hatte sie "das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" verabschiedet und damit die Grundlage für die Zwangssterilisation von vermeintlich "erbkranken" Menschen geschaffen. Ein solches Gesetz fordert Walter Groß in seinem Vortrag auch für sogenannte "Asoziale". Mit dem Begriff bezeichneten die Nazis Menschen, die gegen die Normen der (nationalsozialistischen)Gesellschaft verstießen. Darunter Obdachlose, Bettler und Prostituierte.
Zu dem Zeitpunkt waren die "Euthanasie"-Morde der Nazis bereits im vollen Gange und die als "asozial" stigmatisierte Personen wurden in Konzentrationslager verschleppt, in Anstalten eingewiesen oder zwangssterilisiert - auch ohne eigenes Gesetz. Bei dem Vortrag handelt es sich um eine der wenigen programmatischen Verlautbarungen aus dem engeren Führungskreis zum Vorgehen gegen sogenannte "Asoziale".

Archivradio-Gespräch Die Neumühle-Bande – Ein pfälzisches Gangster-Epos

1945-47 hält eine Serie von Morden und Überfällen die Pfalz in Atem. 32 Angeklagte stehen schließlich vor Gericht. Der Prozess verrät viel über die Gesellschaft der Nachkriegszeit.

Das Wissen SWR2

28.8.1964 Auschwitzprozess: Ärzte im "Zigeunerlager" – Der Name "Mengele" taucht auf

28.8.1964 | Der erste Auschwitzprozess fand zwischen 1963 und 1965 in Frankfurt am Main statt. Zu den zentralen Themen des ersten Auschwitzprozesses gehörte die Frage, welche Ärzte die "Selektion“ betrieben haben. Damit ist die Aussonderung von kranken und alten Gefangenen gemeint, die unmittelbar der Tötung zugeführt werden sollten. Bei den Selektionen waren meist Ärzte dabei; ihnen oblag die Entscheidung über Leben oder Tod.
Die Vernehmung des Zeugen und späteren Nebenklägers Aron Bejlin durch Richter Hans Hofmeyer am 28. August 1964 dreht sich um diese Frage. Bejlin war selbst Arzt und lebte in seiner Häftlingsbaracke mit anderen Ärzten zusammen. In unmittelbarer Nachbarschaft befand sich das "Zigeunerlager“, wo laufend Selektionen stattfanden. Innerhalb kurzer Zeit, so der Zeuge, waren alle Zigeuner vernichtet. Im Lagerjargon gab es den "Goebbels-Kalender“ – ein makabrer Begriff für jüdische Feiertage, an denen die SS besonders viele Vergasungen unternahm.
Aron Bejlin wurde, wie viele Ärzte unter den Häftlingen, zu pflegerischen Aufgaben abgestellt und berichtet von 40 griechischen Jungs, die er mit seinen primitiven Verbandsmaterialien nicht versorgen konnte. Den Kindern hatte der Lagerarzt Horst Schumann mit Röntgenstrahlen die Hoden verbrannt.
Bejlin erwähnt mehrmals in der Vernehmung den Lagerarzt Josef Mengele. Er ist heute für seine medizinische Experimente an Gefangenen berüchtigt und rückte erst durch diesen Prozess ins Bewusstsein der Strafverfolgung. Mengele starb unbehelligt 1979 in Südamerika.

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