
Der Sehsinn, auch Gesichtssinn genannt, ist unser wichtigster Sinn, sagt Hans-Otto Karnath, Neurologe und Hochschullehrer am Zentrum für Neurologie der Universität Tübingen. Der Bereich im Gehirn, der sich ausschließlich der Aufgabe widmet, zu erkennen, was wir sehen, ist entsprechend groß – er umfasst mehr als die Hälfte der Großhirnrinde. Wenn wir etwas sehen, trifft die Information, die das Auge sendet, dort ein und durchwandert dann rund 40 hochspezialisierte Areale.
Vorliebe für visuelle Reize
Hans-Otto Karnath skizziert auf einem Blatt Papier einen Kopf. Am Hinterkopf zeichnet er das primäre Sehzentrum ein und zieht von dort aus zwei Bahnen durchs Gehirn – eine reicht bis zum Scheitel, die andere bis zur Schläfe. Auf diesen Pfaden reihen sich die visuellen Areale aneinander. Die Nervenzellen in diesen Bereichen haben unterschiedliche Formen und reagieren auf verschiedene visuelle Reize.

Die beteiligten Neuronen zeigen auf ihrem Weg durch den Kopf immer stärkere Vorlieben für komplexe visuelle Reize. Ganz am Ende des hierarchischen Pfads sprechen bestimmte Neuronengruppen gezielt auf bestimmte Objekte wie bekannte Autos oder Kleidungsstücke an.
Die visuellen Areale sind nicht nur untereinander verknüpft, sondern arbeiten auch mit weiter entfernt gelegenen Bereichen im Gehirn zusammen. Beim Lesen beispielsweise befinden sich visuelle Areale in regem Austausch mit dem Sprachzentrum.
Geometrie und Gesichter
Um die Hirnstrukturen zu finden, die für die Bearbeitung einer Aufgabe unabdingbar notwendig sind, untersucht man Patienten, die aufgrund einer Hirnschädigung unter einer Wahrnehmungsstörung leiden.

So untersuchten Hirnforscher jahrelang Menschen, denen es nicht mehr gelang, Kreise von Dreiecken zu unterscheiden. Die Wissenschaftler wollten so den Ort auf der Großhirnrinde finden, an dem einfache geometrische Formen erkannt werden.
Es gibt Hunderttausende von Deutschen, die von klein auf keine Gesichter erkennen können. Die Betroffenen können zwar Mimik korrekt deuten und nehmen auch wahr, ob ein Gesicht schön ist, breit oder schmal, männlich oder weiblich, allerdings erkennen sie keine Gesichter wieder.
Erbliche Gesichtsblindheit
Martina und Thomas Grüter forschen gemeinsam auf dem Gebiet der Neuropsychologie der Gesichtserkennung. Ihnen gelang der Nachweis, dass die erbliche Form der Gesichtsblindheit sehr viel häufiger vorkommt als bisher angenommen. Etwa 2,5 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind davon betroffen. Thomas Grüter will schon aus eigenem Interesse mehr über die Störung wissen.

Denn schon als Junge fragte sich Thomas Grüter, wie die anderen Menschen es schaffen, Gesichter wieder zu erkennen. Dass mit seiner Wahrnehmung etwas nicht stimmt, ist ihm erst spät bewusst geworden. Bis dahin war Thomas Grüter in unzählige peinliche Situationen geraten, weil er Menschen nicht erkannte. Das Gesicht ist schließlich der herausragende Erkennungsfaktor. Doch heute hat er gelernt, ohne diese entscheidende Fähigkeit auszukommen, indem er das Handicap kompensiert.
Gesonderte Verarbeitung
Neurowissenschaftler sind sich darüber einig, dass die neuronalen Prozesse bei der Gesichtserkennung etwas Besonderes sind. Doch inwiefern unterscheiden sich die entsprechenden Hirnfunktionen von denjenigen, die für die Wiedererkennung bekannter Objekte verantwortlich sind, zum Beispiel die eigene Haustür zu erkennen oder das Auto der Freundin?

Untersuchungen im Kernspintomographen zeigen, dass bei der Gesichtswahrnehmung Hirnregionen aktiv werden, die zwischen dem Hinterhaupts- und dem Seitenlappen liegen. Außerdem wissen die Forscher, dass Gesichtsblindheit meist alleine auftritt, also nicht an andere Agnosien gekoppelt ist: Wer Schwierigkeiten hat, Gesichter auseinanderzuhalten, kann die restliche Welt meist trotzdem problemlos wahrnehmen. Dieser Zusammenhang liefert den Forschern ein weiteres Argument für die These, dass die Wahrnehmung von Gesichtern gesondert verarbeitet wird.
Keine Auffälligkeiten
In der Forschung geht man davon aus, dass die Gehirnregion "Gyrus fusiformis", die auf dem rechten Schläfenlappen liegt, die Gesichtswahrnehmung steuert. Deshalb wird das Areal auch als fusiform face area bezeichnet. Doch, obwohl bei Gesichtsblinden die Module zur Gesichtserkennung nicht mehr funktionieren, zeigt Hirnscans an der fusiform face area keine Auffälligkeiten.

Warum können Menschen keine Gesichter wahrnehmen, obwohl ihre Augen und Gehirne völlig intakt sind? Das ist nur eine von vielen unbeantworteten Fragen in der Gehirnforschung. Die Prozesse im Gehirn werden längst noch nicht durchschaut. So steht bei den Wissenschaftlern in der Diskussion, wie die verschiedenen Gehirnareale miteinander kommunizieren. Manche Forscher gehen davon aus, dass Areale bei denen sich zur gleichen Zeit das gleiche Aktivierungsmuster messen lässt, gerade in Verbindung stehen. Doch diese These ist stark umstritten.