Der düstere Wissenschaftler

200 Jahre Frankenstein

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SWR2 Impuls. Von Werner Bloch. Onlinefassung: Ralf Kölbel

Frankenstein ist der Urtypus des genialen, Grenzen überschreitenden, aber auch düsteren und scheiternden Wissenschaftlers. Sein Bild entstand vor 200 Jahren aus der Hand von Mary Shelley, die im meteorologisch hoch interessanten Jahr 1816 am Genfer See mit Lord Byron und Percy Shelley Schauergeschichten schrieb.

Es ist eine Zeit der Neuerungen und des Fortschritts, in der die größten Denker der Welt die Grenzen des Möglichen verschieben und eintauchen in das Unvorstellbare. Mein Freund Victor Frankenstein ist einer von ihnen. Der Film "Frankenstein – Genie und Wahnsinn" ist erst 2016 in die Kinos gekommen - nur eine von vielen Verfilmungen der offensichtlich unerschöpflichen Frankenstein-Geschichte. Frankenstein – das ist der Traum des Menschen von der absoluten Schöpfung, der Selbstermächtigung des Wissenschaftlers, der zum Schöpfer wird – und letztlich zu Gott.

Frankenstein: Schauergeschichten im Jahr ohne Sommer

Doch kann das gutgehen? In Genf ist jetzt der Ursprung des Frankenstein-Mythos zu besichtigen. David Purr, Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Genf: Es war ein kalter, regnerischer Sommer. 1816 nannte man sogar "das Jahr ohne Sommer", weil in Indonesien ein Vulkan ausgebrochen war und Aschewolken über Europa verstreut hatte. Damals versammelten sich in Coligny, einem vornehmen Stadtteil von Genf, vier Engländer in der Villa Diodati, einem Palast, den Lord Byron angemietet hatte. Man erzählte sich Geistergeschichten, und eines Tages schlug Byron vor: jeder soll eine eigene Schauergeschichte erfinden. Bei dieser Gelegenheit erfand Mary Shelley, die Frau des romantischen Dichters Percy Shelley, "Frankenstein", die Figur eines erfolgreichen Naturwissenschaftlers, der in seinem Labor einen Menschen erschafft.

Hand schreibt mit Schreibfeder (Foto: SWR, SWR -)
Schauergeschichten im Jahr ohne Sommer

Mary Shelley ist, als sie zu schreiben beginnt, sehr jung, sehr unerfahren und brillant. Sie ist 17 Jahre alt. 1818 erscheint "Frankenstein oder Der neue Prometheus". Das Buch wird bald ins Französische übersetzt und ein Welterfolg. Nur mit dem Deutschen hapert es: Die deutsche Übersetzung erscheint erst 1912.

Mary Shelley war ihrer Zeit voraus. Sie war die Tochter eines radikalen englischen Philosophen, des Atheisten William Goldwin, und ihre Mutter hatte sich den Ruf einer Feministin erworben. Den Namen Frankenstein fand die junge Autorin in Deutschland, in einer Burg bei Darmstadt. Dort soll im 17. Jahrhundert ein Alchemist gelebt haben, der zur Vorlage der Frankenstein-Figur wurde.

Galvanische Experimente als Inspirationsquelle

Um die aus Leichenteilen zusammengenähte Kreatur zum Leben zu erwecken, bedarf es im Roman der Elektrizität. Die war damals das Thema der Stunde und wurde heiß diskutiert. Wissenschaftler experimentierten mit frischen Leichen – und mit der Induktion von Strom, der plötzliche Muskelkontraktionen hervorrief. Was früher am Fröschen praktiziert wurde, geschah jetzt mit menschlichen Körpern. Mary Shelley soll - so David Purr - ein Gespräch zwischen Lord Byron und ihrem Ehemann Percy Shelley mitgehört haben, in dem es um Galvanismus und das Prinzip des Lebens ging – das habe sie auf das Thema gebracht.

Der Italiener Luigi Galvani hatte 1780 mit Stromstößen an Froschschenkeln experimentiert und gezeigt, dass diese zu zucken beginnen, wenn sie mit Nadeln aus Eisen und Kupfer berührt werden. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde auch mit Menschen experimentiert, etwa mit Hingerichteten in Gefängnissen.

Ein englischer Mörder wurde 1803 im Gefängnis von Newgate hingerichtet. An seinen Körper wurden Elektronen angeschlossen und Stromschläge erteilt, so dass die Gliedmaßen wild zuckten und der Leichnam um sich schlug und lebendig aussah. Das ähnelt durchaus Mary Shelleys Beschreibung der Szene, in der Frankenstein die Kreatur zum Leben erweckt.

Die Experimente Galvanis werden im Roman explizit erwähnt, Victor Frankenstein soll an der Universität Ingolstadt (die es heute nicht mehr gibt) für seine "Operation" mit Elektrizität experimentiert habe.

Frankenstein als Metapher: Wissenschaftler ohne Grenzen

Frankenstein fehlt allerdings etwas Entscheidendes: die Seele. Darf man mit seelenlosem Körpermaterial experimentieren? Darf sich Wissenschaft zum Herrn über Leben und Tod aufschwingen? Darf sie alles? Oder aber, anders gefragt: muss Wissenschaft nicht immer Grenzen überschreiten, wenn sie Neue liefern soll?

So argumentieren Naturwissenschaftler gerne. Frankensteins physikalisch-biologisches Experiment erinnert sehr an die aktuellen Versprechungen der Gentechnik. Natürlich wollen auch die Genetiker immer nur "das Beste" für den Menschen.

In Wirklichkeit findet eine ständige Gentrifizierung des Körpers statt, eine genetische Optimierung, eine Auswahl der Besten und Vermögenden, vor allem in Ländern, die ethische Gesetze sehr lax auslegen. Das zeigt auch das erste Baby mit drei Eltern, das kürzlich in Mexiko geboren wurde. Kaum möglich, hier nicht an Frankenstein zu denken.

Macht sich Victor Frankenstein, der geniale Wissenschaftler, schuldig?
Für Mary Shelley steht fest: absolut. Allerdings nicht dadurch, dass er eine Kreatur in die Welt bringt, die niemals dort hätte sein sollen, sondern dass er sich an dieser Kreatur versündigt. Denn Frankenstein ist bei der Produktion des Monsters nur halbherzig dabei, er macht Fehler. Und als er sieht, wie hässlich und unvollkommen die Kreatur ist, wendet er sich entsetzt ab.

Die gelbliche Haut verdeckte nur notdürftig das Spiel der Muskeln und das Pulsieren der Adern. Das Haupthaar war freilich von schimmernder Schwärze und wallte überreich herab. Auch die Zähne erglänzten so weiß, wie die Perlen. Doch stand solch Vortrefflichkeiten im schaurigsten Kontraste zu den wässrigen Augen, welche nahezu von derselben Farbe schienen wie die schmutzig weißen Höhlen, darin sie gebettet waren, sowie zu dem runzeligen Antlitz und den schwarzen, aller Modellierung entbehrenden Lippen.

Prototyp des amoralischen Wissenschaftlers

Frankenstein überlässt die Kreatur sich selbst, auch als sie ihn um Hilfe und Anerkennung anfleht. Frankensteins Kälte löst dann die Katastrophe aus: Die Kreatur ist anfangs weder gut noch böse, doch durch die Zurückweisung ihres Schöpfers wird sie aggressiv. Sie tötet Victor Frankensteins Familie und am Ende auch ihn selbst.

Hier kommt der Gedanke Rousseaus ins Spiel, dass der Mensch nicht an sich ist schlecht ist, sondern durch die Gesellschaft dazu gemacht wird. Dieser romantische Gedanke war zur Zeit Mary Shelleys philosophisches Allgemeingut.

Mary Shelley kreiert in ihrem Roman den Archetyp des "stolzen Wissenschaftlers", abgehoben und amoralisch – eine Haltung, die im wahrsten Sinne über Leichen geht.

"Frankenstein" ist letztlich keine Schauergeschichte, sondern benutzt Elemente des Schauerromans für ein brillantes Handlungsgerüst. In Wirklichkeit ist dies ein Sozialroman über die Familie und Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft, das Buch ist Science Fiction und Wissenschaftsroman, Mad Medicine und Kriminalgeschichte.

Ein komplexes Buch, dessen Vielschichtigkeit nicht immer erkannt und das manchmal zum Splatter Movie herabgewürdigt wird – aber der Stoff lässt uns zwei Jahrhunderte nach seiner Entstehung immer noch nicht los.

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SWR2 Impuls. Von Werner Bloch. Onlinefassung: Ralf Kölbel