«Agnes» von Peter Stamm (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)

Sternchenthemen im Abitur

Peter Stamm: "Agnes"

Stand
AUTOR/IN
Eberhard Falcke
ONLINEFASSUNG
Ursula Schachenhofer

Ein Roman kommt in die Schule

Was passiert mit einem literarischen Werk, wenn es zur Pflichtlektüre in der Schule wird? Das erleben nicht viele Schriftsteller bereits zu Lebzeiten. So geschah es dem Schweizer Autor Peter Stamm mit seinem Debütroman "Agnes". Das Buch ist in Baden-Württemberg verbindliche Lektüre für das Deutsch-Abitur.

Wie ergeht es den Beteiligten damit? Welches pädagogische Interesse steht dahinter? Wird "Agnes" nun in der Schule feierlich beigesetzt im Kanon der "Klassiker" - oder im Gegenteil besonders lebendig unter den Augen junger Leserinnen und Leser?

Werk

Der Roman "Agnes" erzählt vom Scheitern der Liebesgeschichte zwischen der Titelheldin und dem Ich-Erzähler, einem namenlosen Schweizer Sachbuchautor. Er ist nach Chicago gekommen, um für ein Buch über den Unternehmer Pullman, den Erfinder der Luxuseisenbahnen, zu recherchieren.

Als Agnes den Geliebten auffordert, sein literarisches Können an einem erzählerischen Porträt ihrer Person zu beweisen, vermischen sich Schreiben, Wünsche und emotionale Konflikte zu einem gefährlichen Spiel um Liebe und Dominanz.

Aktualität

"Agnes" ist, wie man so sagt, leicht zu lesen, aber dennoch nicht ohne raffinierte, anspielungsreiche Komplikationen. Mit Zitaten aus Literatur und Kunst wird ein symbolisches und intertextuelles Verweissystem entwickelt; die indirekte, medienvermittelte Wahrnehmung ist ein aktuelles Thema; die Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Geliebten Agnes gestaltet sich als wechselhaftes Rollenspiel.

Die Verwandlung von Realität in Fiktion ist für Peter Stamm ein zentrales Thema, das in fast all seinen Büchern in irgendeiner Form vorkommt. Wenn er in Schulen zu Lesungen eingeladen wird, erklärt er, dass auch Schüler dieser Verwandlung im Alltag begegnen:

Indem Peter Stamm solche Mechanismen beschreibt und aufdeckt, wird für ihn Literatur auch wieder politisch.

Der Roman als Pflichtlektüre

In der Auswahl der Abiturthemen müssen gewisse Vorgaben eingehalten werden. Es müssen drei Texte sein, davon sollte einer dramatisch sein. Sie sollten zeitlich nicht so eng benachbart sein, also möglichst verschiedene Epochen repräsentieren. Zudem müssen sie vergleichbar sein, sich also auf ein gemeinsames Themenfeld beziehen. Das Themenfeld, auf dem "Dantons Tod", "Homo faber" und "Agnes" zusammengespannt wurden, heißt "Identität und Rolle". Und auf diesem Feld werden die Aufgaben sprießen, mit denen dann am Tag der Abiturprüfung zu rechnen ist. 

In "Agnes" entsteht eine Geschichte in der Geschichte. Der schreibende Liebhaber zieht dadurch Agnes in das Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Das ist ein ergiebiger Stoff für die Arbeit im Unterricht. Die Liebesgeschichte hat psychologischen Tiefgang, die Figuren lassen sich nicht einfach erschließen, sie werfen Fragen auf, sie haben Schatten, die aufgehellt werden müssen. Das liegt daran, dass wir einen sehr zurückhaltenden Erzähler haben, eine Dominanz von Dialogen, Beschreibungen, wenig Introspektion. Es ist also ein Text, der sich ganz wunderbar für Interpretationen eignet und den Schülern auch deutlich macht, was der Unterschied zwischen literarischem und pragmatischem Text ist.

Was heißt das für einen Schriftsteller, wenn eines seiner Bücher in die Schule kommt?
Als "Agnes" als Prüfungsstoff für das Deutsch-Abitur in die Schulen kam, hat Peter Stamm auf seiner Website eine eigene Abteilung angelegt. Einleitend steht dort ein Brief an sein neues Publikum, geschrieben im Februar 2012:

Die Frage, ob es im Deutschunterricht Pflichtlektüren geben muss, ist für Peter Stamm eine Grundsatzfrage: "Soll man überhaupt Kinder in die Schule schicken? Und wenn ja, was sollen sie da lernen? Und wenn sie da was lernen sollen, ist die Frage, sollen sie da auch über Literatur reden. Ich finde ja, weil ich finde, Literatur ist was Wichtiges. Wenn Sie über Literatur reden wollen, dann müssen Sie natürlich dasselbe Buch lesen, sonst können Sie nicht drüber reden. Also gibt‘s halt einfach gute Gründe, Pflichtlektüre zu haben in der Schule."

Peter Stamm

Peter Stamms Ausbildungsjahre waren, bevor er sich auf die Schriftstellerei verlegte, von überraschenden Gegensätzen geprägt. Einerseits machte er eine kaufmännische Lehre, andererseits studierte er später Psychologie und Psychopathologie, die er durch das Fach Informatik ergänzte. Er war Praktikant in psychiatrischen Kliniken, arbeitete aber auch als Buchhalter. Die Zahlen und die Seele - diese Polarität scheint sich auch in seiner Schreibweise zu manifestieren. Da verbindet sich die Neigung zur Präzision mit der Fähigkeit zur Einfühlung und einem großen Gespür für die Unwägbarkeiten des Seelenlebens. Oft wird mit wenigen sachlichen Worten eine ganze Gefühlswelt umrissen.

Längst hat sich Peter Stamm, geboren 1963 im schweizerischen Kanton Thurgau, in die erste Reihe der deutschsprachigen Literatur hineingeschrieben.

Seine Schriftstellerlaufbahn begann er 1990. Er arbeitete journalistisch und schrieb Hörspiele, Theaterstücke, Romane und Erzählungen. 1998 gelang ihm mit dem Roman "Agnes" der Durchbruch als Erzähler.

Über die Jahre ist ein bereits umfangreiches Erzählwerk entstanden, im Wechsel fünf Romane und vier Erzählbände. Kaum ein anderer deutschsprachiger Gegenwartsautor pflegt die Gattung der Kurzgeschichte mit solcher Konsequenz und so glücklicher Hand wie Peter Stamm, der in seinem Werk schon über viele und vor allem ganz unterschiedliche Figuren geschrieben hat. Und wer alle Schauplätze seiner Romane und Erzählungen besuchen wollte, der käme weit herum auf der Welt.

Auch Agnes und ihr Schweizer Geliebter zeigen auf dem fernen Schauplatz Chicago ganz eigene Profile: Er, ein Mann, der als Schriftsteller ähnlich halbherzig erscheint wie als Liebhaber. Und sie, die viel Jüngere, eine vielseitig aktive Frau, die an einer naturwissenschaftlichen Promotion über Kristallgitter und deren symmetrische Strukturen arbeitet - Symmetrien, die sich ohne weiteres als Metaphern für ihre Idealvorstellungen von der Liebe deuten lassen. 

Was schlussendlich mit Agnes geschehen ist bleibt unklar:

Literatur

  • Peter Stamm: Agnes. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main, 21. Auflage 2014 (Erstmals erschienen 1998)
  • Ungefähre Landschaft, Roman, Arche-Verlag, Zürich und Hamburg 2001
  • An einem Tag wie diesem, Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main  2006
  • Sieben Jahre, Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
  • Nacht ist der Tag, Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
  • Peter Stamm: Die Vertreibung aus dem Paradies. Bamberger Vorlesungen und verstreute Texte. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014
  • Peter Stamm: Der Lauf der Dinge. Gesammelte Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt am Main 2014
  • Michael Karl: Ein Unbehagen in der Kultur. Kritische Anmerkungen zum Roman "Agnes" von Peter Stamm. Deutscher Wissenschafts-Verlag, Baden-Baden 2014
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