Zerstörte Fenster der Kieler Synagoge nach der Reichspogromnacht im November 1938 (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture-alliance / dpa - Stadtarchiv Kiel)

9. November 1938

Reichspogromnacht – Das schwierige Gedenken

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In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 begann die offene, systematische Judenverfolgung. Das Gedenken daran fiel den Deutschen lange schwer. 

Die "Nacht als die Synagogen brannten" vom 9. zum 10. November 1938 war nicht nur ein Angriff auf jüdische Heiligtümer, sondern hatte Hunderte Todesopfer, Zehntausende Verhaftungen und weitreichende Zerstörung jüdischen Eigentums zur Folge. Sie markierte den Anfang der offenen Verfolgung deutscher Juden und hinterließ einen dunklen Fleck auf dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen.

Dieser Fleck war aber nicht nur ein dunkler, sondern zugleich auch ein blinder: Erst 40 Jahre nach diesen Taten, am 10. November 1978, gedachte Helmut Schmidt als erster Bundeskanzler öffentlich der Geschehnisse während der Reichspogromnacht. Und 10 Jahre danach, zum 50sten Jubiläum, verbrannte sich der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger die Finger bei dem Versuch, die Pogrome im Alleingang geschichtlich und gesellschaftlich einzuordnen.

Wir dokumentieren die Pogromnacht sowie die Reden Schmidts und Jenningers in ausgewählten Tondokumenten und einer Bilderstrecke.

Originalaufnahmen im SWR2 Archivradio

9.11.1938 Hitler in der Reichspogromnacht

9.11.1938 | Am 9. November 1938 um Mitternacht vereidigt Adolf Hitler in München den neuen Jahrgang der SS-Verfügungstruppen und der Totenkopfbände. Seine Rede erinnert daran, dass es kein Zufall ist, dass die Pogrome auf den gleichen Kalendertag fallen wie die Ausrufung der Republik 20 Jahre zuvor. Und wie sehr Hitler im 9. November seinen persönlichen Kampftag sieht. Hitler erinnert an den Sturz der Monarchie und die Kapitulation 1918, die er als Schande und Volksverrat bezeichnet. Und er erinnert an seinen gescheiterten Putsch in München, den er damals auch schon bewusst am 9. November 1923 plante. Genau im Gedenken an jenen Putsch hatte sich die NSDAP-Führung ja an jenem Abend auch auf dem Odeonsplatz getroffen. Schon vor Hitler hatte Goebbels in einer Hetzrede erklärt, dass sich die Partei antijüdischen Aktionen nicht in den Weg stellen werde. Im Anschluss ergingen die Anweisungen an die SA und die Gaupropagandaleitungen zur Zerstörung der Synagogen und jüdischer Geschäfte. Als gegen Mitternacht Hitler spricht und die neuen SS-Rekruten vereidigt, brennen bereits die ersten Häuser. Angekündigt wird Hitler vom Reichsführer der SS Heinrich Himmler. Auf das, was in dieser Nacht noch geschehen würde, geht Hitler nicht ein.

10.11.1938 Reportage aus der zerstörten Synagoge in Wien nach der Reichspogromnacht

10.11.1938 | Von den Pogromen in der Nacht zum 10. November 1938 und auch dem Tag danach existieren kaum Rundfunkaufnahmen. Falls es sie gab, sind sie nicht erhalten oder wurden zerstört. Eine Ausnahme ist Wien. In dieser Reportage vom 10. November 1938 berichtet Eldon Walli, ein gebürtiger US-Amerikaner, für den nationalsozialistischen "Reichssender Wien" vor Ort von der Zerstörung des Leopoldstädter Tempels.
Bemerkenswert ist der Tonfall. Am Anfang könnte fast eine gewisse Anteilnahme heraushören, doch dann wird er immer zynischer, und es wird deutlich, wie der Reporter mit der Zerstörung der Synagoge sympathisiert. Ein Feuerwehrmann erklärt, der Brand sei nicht zu löschen gewesen, so hätten sich die Feuerwehrleute nur noch die Hände wärmen können.

9.11.1978 Helmut Schmidt: Rede zum 40. Jahrestag der Reichspogromnacht

9.11.1978 | Bis 1978 war der 9. November ein Tag wie jeder andere. Es gab kein Gedenken, keine öffentliche Erinnerung. Erst vierzig Jahre nach der Reichspogromnacht – die damals noch nicht so genannt wurde – ändert sich das. Helmut Schmidt besucht an jenem Tag die Kölner Synagoge und hält eine Rede. Die erste Gedenkrede eines Bundeskanzlers zu den Ereignissen von 1938. Das damals noch gängige Wort Kristallnacht nimmt Schmidt bewusst nicht in den Mund.

10.11.1988 Eklat durch Rede Philipp Jenningers anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht

10.11.1988 | Die Rede von Bundestagspräsident Philipp Jenninger in Erinnerung an die Novemberpogrome 1938 stand von Anfang an unter keinem guten Vorzeichen. Im Vorfeld gab es ein ziemliches Gerangel unter den Bundestagsfraktionen, wie groß die Gedenkstunde ausfallen sollte, wer reden darf und wer nicht. Nicht reden durfte Heinz Galinski, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland. Das hatte die Unions-Fraktion blockiert. So redet allein Philipp Jenninger – und sein Versuch, die Judenverfolgung verstehen und erklären zu wollen, wird dann als so unangemessen empfunden, dass er tags drauf zurücktreten muss. Hier die komplette Rede.

10.11.1988 Reaktionen auf Jenningers Skandalrede zur Reichspogromnacht

10.11.1988 | Unmittelbar nach Jenningers Rede zu den Novemberpogromen 1988 zeigten sich zahlreiche Abgeordnete bestürzt. Wir hören unter anderem den damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel sowie Otto Schily, damals Abgeordneter der Grünen.

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