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Arbeit bis ins hohe Alter – Wie Japan auf die demografische Wende reagiert

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Martin Fritz
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Die Regierung in Tokio hat eine "100-jährige Gesellschaft" ausgerufen: Jeder Japaner, jede Japanerin soll lebenslang aktiv bleiben. Das gilt auch für Erwerbsarbeit.

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In Japan hat Arbeit einen hohen Stellenwert

Die Renten in Japan sind bescheiden, die Altersarmut ist hoch. Und für die meisten Menschen in Japan hat Arbeit einen hohen Stellenwert, auch im Alter.

Dies entspricht dem Ideal der Regierung in Tokio, die eine "100-jährige Gesellschaft" ausgerufen hat: Jeder Japaner, jede Japanerin soll lebenslang aktiv bleiben. Das gilt auch für die Erwerbsarbeit.

So wie Emiko Kumagai, mit 79 Jahren die älteste Mitarbeiterin beim Elektronikanbieter Nojima. Sie arbeitet vier Tage in der Woche, insgesamt 18 Stunden. Sie lebt mit ihrer Tochter zusammen, der Ehemann ist verstorben.

Ich gehöre zur Generation von Kaiser Hirohito. Uns wurde immer gesagt: Leben heißt arbeiten. Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.

Die 79-jährige Emiko Kumagai arbeitet in einer Filiale des Elektronikhändler Nojima nördlich von Tokio an vier Tagen in der Woche, insgesamt 18 Stunden (Foto: SWR, Martin Fritz)
Die 79-jährige Emiko Kumagai arbeitet in einer Filiale des Elektronikhändler Nojima nördlich von Tokio an vier Tagen in der Woche, insgesamt 18 Stunden

Jeder vierte Rentner in Japan arbeitet weiter

Tatsächlich ist jeder vierte Rentner in Japan erwerbstätig, im Alter zwischen 65 und 69 Jahren sogar jeder zweite. In der Altersarbeit liegt Japan zusammen mit Südkorea weltweit an der Spitze.

Viele japanische Ökonomen drängen sogar darauf, die Altersarbeit noch stärker zu fördern. Das gesetzliche Rentenalter wurde in Japan wurde gerade erst schrittweise auf 65 Jahre erhöht. Und in Zukunft soll jeder Japaner, jede Japanerin selbst entscheiden, bis zu welchem Alter er oder sie erwerbstätig bleiben will.

Gleiche Arbeit, 40 Prozent weniger Lohn – Gewerkschaften protestieren

Wer nach 60 auf seinem bisherigen Arbeitsplatz weitermachen will, muss allerdings einen neuen Arbeitsvertrag bekommen. Und an dieser Stelle darf das Unternehmen den Lohn kürzen, im nationalen Durchschnitt derzeit um 40 Prozent.

Die Regierung ignoriert Proteste von Gewerkschaften bisher – aus Sorge, dass die Firmen die über 60-Jährigen wegen zu hoher Kosten nicht mehr weiterbeschäftigen.

Der 69-jährige Yasushi Okumura arbeitet auf einem Fahrradparkplatz 15 Stunden pro Woche für umgerechnet 7 Euro die Stunde, die 75-jährige Keiko Sato sitzt drei Mal im Monat für drei Stunden am Empfang einer Praxis für Krebsuntersuchungen (Foto: SWR, Martin Fritz)
Der 69-jährige Yasushi Okumura arbeitet auf einem Fahrradparkplatz 15 Stunden pro Woche für umgerechnet 7 Euro die Stunde, die 75-jährige Keiko Sato sitzt drei Mal im Monat für drei Stunden am Empfang einer Praxis für Krebsuntersuchungen

Lebenslange Beschäftigung: Studium als Alternative zur Erwerbsarbeit

Unterdessen bietet eine wachsende Zahl von japanischen Universitäten kurze maßgeschneiderte Studiengänge für Senioren an. Wie an der Rikkyo-Universität in Tokio: Von den 20.000 Studierenden besuchen rund 100 jedes Jahr ein spezielles Studienkolleg für Senioren. Darunter die 63-jährige Noriko Sudo.

Ich fühlte mich in meinem Job und in der Familie seit Jahren isoliert. Dann entdeckte ich dieses Studium als Ausweg. Es war, als wäre ich aus einem Dornröschenschlaf aufgeweckt worden: das Lernen für eine Prüfung nach so vielen Jahren Pause, die Arbeit mit dem Computer, die Teilnahme an Videokonferenzen. Die größte Veränderung aber war die zwischenmenschliche Interaktion: Endlich konnte ich wieder mit jemandem sprechen.

Knapp ein Viertel der japanischen Senior-Studierenden denkt ebenfalls laut Umfrage nicht gleich an Arbeit oder Soziales. Diese Gruppe möchte stattdessen durch das Studium neue Kontakte knüpfen – über Familie und bisherige Arbeitskollegen hinaus.

Im Altersheim leben und arbeiten: Schließservice, Bio-Gemüse und Ziegen

Das Konzept der lebenslangen Beschäftigung reicht inzwischen sogar bis in die Altersheime hinein. Zum Beispiel das Heim "Petit Monde", Kleine Welt. Es liegt in der Stadt Sakura, eine Autostunde nördlich von Tokio in der Nähe des internationalen Flughafens Narita.

Ein Bewohner des Altersheims ist für das Öffnen der Eingangstüren am Morgen und ihr Schließen am Abend zuständig. So wurde dafür extra auf eine automatische Schließanlage verzichtet. Andere Bewohner bauen Bio-Gemüse an, einige helfen beim Putzen. Und Toshikazu Sato betreut zwei Ziegen und drei Hasen in einem Außenstall. Man findet ihn bei jedem Wetter draußen.

Toshikazu Sato bleibt bei jedem Wetter draußen, schneidet auf dem Feld und dem kleinen Wäldchen hinter dem Heim Futter für seine Tiere und mistet ihre Ställe aus: Vier bis fünf Stunden täglich ist er damit beschäftigt, sagt der inzwischen 81-Jährige (Foto: SWR, Martin Fritz)
Toshikazu Sato bleibt bei jedem Wetter draußen, schneidet auf dem Feld und dem kleinen Wäldchen hinter dem Heim Futter für seine Tiere und mistet ihre Ställe aus: Vier bis fünf Stunden täglich ist er damit beschäftigt, sagt der inzwischen 81-Jährige

Erwerbsarbeit kann also bis zum Lebensende weitergehen. Und Japan setzt darauf, der alternden Gesellschaft ein menschliches und positives Gesicht zu geben.

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