Kinder spielen und toben zusammen in einem Kinderzimmer. (Foto: Colourbox, Model Foto: Colourbox.de -)

Besonders lebhaft oder krank?

ADHS: Streit um eine Diagnose

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AUTOR/IN
Astrid Mayerle
ONLINEFASSUNG
Ulrike Barwanietz
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)

Deutschlandweit sollen mittlerweile mehr als eine halbe Million Kinder und Jugendliche zwischen fünf und vierzehn Jahren an ADS oder ADHS leiden - Jungen drei Mal so oft wie Mädchen. Warum steigen diese Zahlen beständig? Liegt es an einem fragwürdigen Diagnoseverfahren, am wachsenden Leistungsdruck, den die Kinder in den Schulen verspüren oder an gesellschaftlichen Erwartungen, wonach bereits Kinder in der Rolle kleiner Erwachsener ein straffes Zeitmanagement zu absolvieren haben?

Strenge Spielregeln

Sicher ist, die Mädchen und Jungen bewegen sich in einem Kräftefeld aus all diesen und weiteren Faktoren, die das Kindsein immer strengeren Spielregeln der Erwachsenen unterwerfen. Untersuchungen darüber, wie Kinder unter dem Prozedere der Diagnose und der Zuschreibung eines Mangels leiden, also einer Situation, die ihnen zu verstehen gibt, "mit dir stimmt was nicht", existieren nicht.

Um ADS und ADHS zu diagnostizieren, hat die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften einen Leitlinienkatalog entwickelt. Demnach durchläuft das Kind ein mehrstufiges Verfahren. Die Dauer kann sich von einer Woche bis über mehrere Monate erstrecken.

Zunächst geben Eltern und Lehrer mit Hilfe eines Fragebogens Auskunft über das Verhalten des Kindes, dann erfolgen ein Intelligenztest, ein Konzentrationstest und parallel, wenn nötig, medizinische Untersuchungen. Wesentlich ist der Konzentrationstest: Hier achtet der Therapeut oder die Therapeutin darauf, wie aufmerksam, ausdauernd, kooperativ und leistungsmotiviert ein Kind ist.

Subjektive Aussagen

Allerdings birgt die Test-Situation ihre Grenzen, so Harald Wurmser, Psychologe an der Kinderpoliklinik der Technischen Universität München, denn Kinder sind hier eher gehemmt und trauen sich nicht, sich so zu verhalten, wie sie es in vertrauter Umgebung tun würden.

Schnarchende Grundschüler (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Viele Eltern mit lebhaften Kindern kommen mit der Bitte um ein Medikament zum Erstgespräch, vor allem dann, wenn ein Wechsel an eine weiterführende Schule geplant ist

Die Folge: die Diagnostikerin und der Diagnostiker müssen sich vor allem auf die Aussage der Eltern und Lehrer verlassen, die ihre eigenen Interessen und Erwartungen an das Kind ins Spiel bringen. Ein objektives Urteil, ob ein Kind nur besonders lebhaft oder krank ist, gibt es hier nicht. Hinzu kommt, dass der Fragebogen den Eltern und Lehrern einen großen Interpretationsspielraum lässt. Sie sollen auf einer Skala von null bis vier ermessen, ob ein bestimmtes unerwünschtes Verhalten "häufig" auftritt.

Problematisch ist dieser Spielraum insofern, als viele Eltern mit lebhaften Kindern einen Wechsel an eine weiterführende Schule planen, und bereits mit der Bitte um ein Medikament zur Erstgespräch kommen, was eine klare Diagnose voraussetzt. Für den Sprung an die höhere Schule erscheint die entsprechende Pille als ebenso einfache wie schnelle Lösung.

ADHS in der Familie

Gerade wenn eine ganze Familie, über Generationen hinweg, dieselben Symptome zeigt, möchte man wissen, ob es eine genetische Veranlagung gibt oder ob eben bestimmte Verhaltensmuster einfach abgeschaut werden. Ob Kinder sich vielleicht auch in einem inspirierenden Chaos ganz wohl fühlen und daher selbst weniger Struktur und planerisches Talent erlernen.

Generell sind sich Forscherinnen und Forscher einig, dass es genetische Faktoren gibt, die ADHS bedingen. Doch ob dieser Einfluss mehr wiegt als erlernte Verhaltensmuster, ist ungeklärt. Nachgewiesen ist jedoch, dass bei mindestens einem Drittel der Kinder die Schwierigkeiten im Erwachsenenalter fortbestehen.

Ein gängiges Medikament bei ADHS heißt Methylphenidat. Diese Substanz wird mit Abstand am häufigsten verschrieben, meist unter dem Markennamen Ritalin. Zwischen 2012 und 2013 ist die Menge des in Deutschland verordneten Ritalins erstmals seit 20 Jahren etwas zurückgegangen, um zwei Prozent.

Ritalin (Foto: SWR, SWR -)
Ein gängiges Medikament bei ADHS heißt Methylphenidat, diese Substanz wurde bisher oft unter dem Markennamen Ritalin verschrieben

Medikamente und Alternativen

Die Forschung vermutet, dass sich unter Ärztinnen und Ärzten mittlerweile ein etwas vorsichtigerer Umgang mit dem Medikament durchsetzt. Auch alternative und neue Therapiemethoden wie etwa Neurofeedback könnten mit den sinkenden Zahlen in Zusammenhang stehen. Tatsache ist allerdings auch, dass neue Behandlungssubstanzen wie beispielsweise Amphetamine in Deutschland Verbreitung finden.

Tanja Zierle-Praschak ist Verhaltenstherapeutin und bietet auch Elterncoaching an. Sie wirbt um Verständnis für besonders aktive und lebhafte Kinder. Ihres Erachtens geht es darum, dass Kinder ihre Anlagen und Fähigkeiten ausleben dürfen und sollen.

Beim Elterncoaching schaut die Therapeutin auf die gesamte Familie. Jeder, also Vater, Mutter und Kind können ihre Sichtweise der Situation und die Schwierigkeiten schildern. Das ist wichtig, denn manchmal befördert dies überraschende Einsichten: etwa, dass das Kind gar nicht unter der Situation leidet - nur die Eltern. Auch das ist eine wichtige Erkenntnis für alle.

Heilsame Erfahrungen

Bernd Mumbach, der als systemischer Therapeut arbeitet, legt ebenfalls großen Wert auf die Rolle der Eltern. Er hat beobachtet, dass Kinder meist dann unruhiger und unkonzentrierter werden, wenn sich an der gesamten Familiensituation etwas ändert, etwa wenn ein großes Projekt ansteht, ein Hausbau.

Bernd Mumbach hält eine Erfahrung für besonders wichtig und heilsam: nämlich wenn Kinder spüren, dass die Erwachsenen bereit sind, auf sie einzugehen. In der Familie und auch in der Schule. Die klassische Regelschule bietet dafür allerdings meist wenig Raum. Bernd Mumbach hat die Erfahrung gemacht, dass Kindern mit ADS und ADHS von ihrer Umgebung häufig kritisiert werden und wenig gesehen werden in ihren besonderen Fähigkeiten. Denn für die meisten Eltern sind Noten und Zeugnisse am wichtigsten.

Tanja Zierle-Praschak hat die Erfahrung gemacht, dass Eltern sich vor allem dann an sie wenden, wenn ein möglicher Schulwechsel ansteht. Doch dann werden immer auch die Erwartungen der Eltern im Gespräch hinterfragt. Und oft stellt sich dann heraus, dass sich die Eltern viel mehr Stress machen als die Kinder überhaupt selbst.

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Ulrike Barwanietz
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)