Typisch deutsch

Innerlichkeit - entrückt und weltfremd

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AUTOR/IN
Sabine Appel
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Ralf Caspary und Susanne Paluch

Innerlichkeit klingt nach Weltferne, Abschottung gegen die Außenwelt, Versenkung in sich selbst und gilt als typisch deutscher Wesenszug. Was ist dran an dem Mythos? Antworten von Sabine Appel, Buchautorin im Genre Historische Biografien mit einem Schwerpunkt auf europäischer Ideengeschichte.

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Die Aula auf einen Blick:

Innerlichkeit ist ein europäisches Phänomen

"Eine erste Blüte erlebte die 'Innerlichkeit' im 18. Jahrhundert in der Literatur und Philosophie bei Rousseau. In England hat sich die Innerlichkeit weiterentwickelt und schließlich in Deutschland zur Romantik geführt.

Innerlichkeit ist somit immer auch ein europäisches Phänomen gewesen. Allerdings zeigt sich ein deutscher Sonderweg: die manchmal gefährliche Vermischung von Politik und Poesie, wie sie bei Novalis vorkommt. Er überträgt weltferne und überspannte Ideale auf die Politik." (Sabine Appel)

Der angeblich typisch deutsche Nationalcharakter

"Trotz der europäischen Dimension kam es ab dem 19. Jahrhundert zu einseitigen Deutungen eines angeblich „rein deutschen“ Nationalcharakters, der auf einem deutschen Innerlichkeitskonzept basiere.

Thomas Mann z.B. sah im 'Deutschtum' respektive im 'deutschen Seelenbild' eine modern-nationalistische Form von Weltfremdheit, ein tiefsinniges Weltungeschick, einen 'spießbürgerlichen Universalismus', einen 'Kosmopolitismus in der Nachtmütze sozusagen', dem von jeher 'etwas von stiller Dämonie' anhafte.

Thomas Mann in den USA, 1947  (Foto: picture-alliance / Reportdienste, (c) dpa - Bildfunk)
Thomas Mann, aufgenommen in den USA 1947 (Archivfoto)

Solche einseitigen Deutungen ebneten den Weg für all jene Historiker, Philosophen und Literaten, die behaupteten, die deutsche Innerlichkeit habe letztlich im Nationalsozialismus gemündet.

Doch dieses Argument übersieht z.B. die deutschen Beteiligungen an der europäischen Aufklärung, an den Wissenschaftsdiskursen des 19. Jahrhunderts, an den Neuorientierungen in den Zwischenkriegsjahren, auch durch linksgerichtete Vertreter der Literatur, von Ernst Toller über Kurt Tucholsky bis zu Bert Brecht.

Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie ist die Geschichte einer Massenbewegung, doch sie wird ebenfalls ausgeblendet." (Sabine Appel)

Innerlichkeit heute

„Von außen betrachtet sind wir heute das Volk der Autobauer, Tüftler und Exportweltmeister, das sich weitgehend über seine Ökonomie definiert. Ein pragmatisches Volk, das nicht etwa aus Leidenschaft, sondern aus Vernunftgründen europäisch ist.

Kaum jemand würde uns mit der schillernden romantischen Innerlichkeit in Verbindung bringen, mit der wir uns sozusagen selbst einen dunkel umgedeuteten Nimbus gegeben haben. Ein Nimbus, der zwar fragwürdig, aber dennoch ein Teil des tiefen Aufarbeitens historischer Schuld ist.

Die 'deutsche Innerlichkeit' ist ein Mythos. Aber an jedem Mythos ist ja auch zugleich etwas Wahres.“ (Sabine Appel)


(Teil 2, Sonntag, 29. September, 8.30 Uhr)

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Sabine Appel (Foto: SWR, Sabine Appel -)
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