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Psychologie der Heuchelei

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Wolfgang Streitbörger
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Sie stellen andere an den Pranger – obwohl sie sich selbst ganz unmoralisch verhalten: Heuchler sind Meister der Doppelmoral. Warum? Das erforschen Psycholog*innen erst neuerdings.

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Heuchelei, Doppelmoral, Scheinheiligkeit: immer auf Kosten anderer

Was genau ist Heuchelei? Auf alle Fälle etwas, das schon sehr lange die Gemüter bewegt. In einem zweieinhalb tausend Jahre alten Platon-Dialog spricht Platons Bruder Glaukon über Menschen, die nur dann Gutes tun, wenn es andere gerade sehen – heimlich aber ganz anders handeln. Sie heißen deshalb "Glaukonier". Man kennt die Heuchelei auch als Doppelmoral. Die Kirche spricht von Scheinheiligkeit. In der Bergpredigt wie auch im Koran taucht die Vortäuschung von Glauben als Thema auf.

Der niederländische Wissenschaftler Joris Lammers ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Bremen; in seinem Heimatland und an der Universität zu Köln hat er intensiv über die Doppelmoral geforscht. Die Heuchelei, sagt er, diene immer dazu, sich selbst Vorteile gegenüber anderen zu verschaffen. Wenn der Heuchler Erfolg hat, geht das also stets auf Kosten anderer.

Heuchler fallen nicht nur auf der großen politischen Bühne unangenehm auf, sondern auch im Alltag. Wenn jemand z.B. für den eigenen Umzug die Hilfe von Freunden selbstverständlich in Anspruch nimmt, im umgekehrten Fall aber "leider verhindert" ist. (Foto: IMAGO, imago images / Panthermedia)
Heuchler fallen nicht nur auf der großen politischen Bühne unangenehm auf, sondern auch im Alltag. Wenn jemand z.B. für den eigenen Umzug die Hilfe von Freunden selbstverständlich in Anspruch nimmt, im umgekehrten Fall aber "leider verhindert" ist.

Widersprüchlichkeit: Wasser predigen, aber Wein trinken

Die Psychologen Sean Laurent und Brian Clark haben untersucht, was US-Amerikaner als Heuchelei empfinden und welche Formen davon als besonders schlimm gelten. Sie befragten 300 Studierende und fanden sage und schreibe 546 unterschiedliche Definitionen von "hypocrisy", von Heuchelei. Das englische Wort "hypocrisy" stammt aus dem Altgriechischen, das alte deutsche Verb "heucheln" bezeichnete einst ein Ducken wie ein Hund, ein Unaufrichtigsein.

In den meisten Definitionen der Befragten geht es um Heinrich Heines "Wasser predigen, aber selbst Wein trinken", also die Abweichung zwischen Moralpredigt und dem tatsächlichen Verhalten: zum Beispiel, wenn der Kongressabgeordnete öffentlich gegen Abtreibungen wettert, aber seine eigene Freundin zu einem Schwangerschaftsabbruch drängt. Im Kern, so die Forscher Laurent und Clark, gehe es bei Heuchelei immer um "Inconsistency", also um Widersprüchlichkeit.

Tim Murphy im März 2017. Der republikanische US-Kongressabgeordnete setzte sich öffentlich gegen Abtreibung ein, hatte aber seine Geliebte zur Abtreibung gedränt als er glaubte, sie sei schwanger. Im Oktober 2017 trat er zurück. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / AP Photo)
Tim Murphy bei einer Veranstaltung im März 2017. Der republikanische US-Kongressabgeordnete setzte sich öffentlich gegen Abtreibung ein, hatte aber seine Geliebte zur Abtreibung gedrängt als er glaubte, sie sei schwanger. Im Oktober 2017 trat er zurück.

Was macht Menschen zu Heuchlern? Für die Bielefelder Sozialpsychologin Alexa Weiß hat das unter anderem mit der Fähigkeit oder eben der Unfähigkeit zu tun, anderen Menschen vertrauen zu können. In einer wissenschaftlichen Online-Befragung, die sie 2018 zusammen mit zwei Kollegen veröffentlicht hat, wollte sie von den rund 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zunächst wissen, wie viel Grundvertrauen sie in sich tragen. Im zweiten Schritt konfrontierte sie die Versuchspersonen dann mit kniffligen moralischen Fragen. Zum Beispiel, ob man versehentlich zu viel erhaltenes Wechselgeld zurückgeben soll.

Misstrauen und Opfersensibilität begünstigen heuchlerische Entscheidungen

Die Ergebnisse der Befragung zeigen: Wer dem Kollegen misstraut, findet es eher in Ordnung, das von ihm zu viel erhaltene Wechselgeld zu behalten, nachdem eben dieser Kollege gerade für alle Mittagessen eingekauft und das Geld dafür ausgelegt hatte. Aber wehe, wenn jemand anderes diesen Euro für sich behält!

Neben der Rolle von Vertrauen untersuchte Alexa Weiß auch den Einfluss der Opfersensibilität. Damit meint die Psychologie, wie schnell und leicht sich Menschen als Opfer fühlen. Alexa Weiß konnte zeigen: Wer anderen mit Misstrauen begegnet oder wer sich eher als Opfer fühlt, neigt dann auch eher zur Heuchelei.

Heuchler verschaffen sich Vorteile, führen aber ein anstrengendes Leben

Der Heuchler verschafft sich bei Erfolg zwar Vorteile, aber zahlt auch einen Preis. Wer auffliegt, verliert seine Glaubwürdigkeit, vielleicht sogar seine gesellschaftliche Stellung. So wie der Kongressabgeordnete Timothy Murphy, als sein widersprüchliches Sprechen und Handeln zum Thema Abtreibung publik wurde. Aber auch Heuchler, die nicht auffliegen, erschleichen sich ihre Vorteile nicht umsonst. Das Leben als Heuchler ist auf lange Frist anstrengend, denn der Schein muss aufrecht erhalten werden.

Wie aber schützt man sich vor den Scheinheiligen? Joris Lammers hält im Rahmen der Politik eine gut funktionierende Presse für wirklich wichtig. Kritische Medien verfolgen, was Politiker sagen und ob sie im Widerspruch dazu handeln. Doch Alexa Weiß weiß: Solange man mit Menschen zu tun hat, ist es kaum möglich, sich vor Heuchlern zu schützen. Und die Psychologie der Heuchelei steht erst am Anfang.

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