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Pillen ohne Rezept – Risiken der Selbstmedikation

Stand
AUTOR/IN
Sigrun Damas
ONLINEFASSUNG
Anja Braun

Immer mehr Menschen kaufen sich Medikamente ohne Rezept. Doch das Risiko von selbst verordneten Pillen wird oft unterschätzt.

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5 Tipps zum Umgang mit Selbstmedikation und rezeptfreien Medikamenten:

  • Wenn eine Gesundheitsbeschwerde länger als drei bis vier Tage anhält, dann sollte ich zum Arzt.
  • Wenn ein Symptom zum ersten Mal auftritt und ich es nicht einordnen kann, dann ist das kein Symptom für die Selbstmedikation.
  • Wenn ich Medikamente kaufe in der Apotheke, sollte ich mich immer wieder aufs Neue beraten lassen. und immer darauf hinweisen, was ich sonst noch einnehme.
  • Rezeptfreie Medikamente nur aus sicheren Quellen kaufen.
  • Arzneimittel mit Alkohol meiden. Denn Alkohol ist kein Arzneimittel.

Rezeptfreie Schmerzmittel können sogar die Fruchtbarkeit schädigen

So können Paracetamol und Ibuprofen verhindern, dass sich Eizellen bei ungeborenen Mädchen bilden, wenn sie in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft eingenommen werden. Von Paracetamol war das bereits bekannt, nun steht auch Ibuprofen unter Verdacht, Töchter unfruchtbar zu machen. Diesen Schluss ziehen französische Wissenschaftler, nachdem sie Eierstockgewebe von 185 weiblichen Föten untersucht hatten.

Die Forscher der Universität Rennes berichteten im Fachblatt Human Reproduction, dass die Mädchen mit einer begrenzten Anzahl an Follikeln in den Eierstöcken geboren werden. Dadurch wird die spätere Fruchtbarkeit reduziert, weil weniger Eizellen da sind und auch die Wechseljahre treten früher ein. Wenn die Mutter in der Schwangerschaft also Ibuprofen einnimmt, kann das 20-30 Jahre später Auswirkungen haben auf das ungeborene Mädchen.

Schmerzmittel stehen ganz oben auf der Hitliste der selbstverordneten Medikamente

Aber auch bei Husten, Schnupfen, Heiserkeit, gegen Magenschmerzen und Verdauungsstörungen bedienen sich die Deutschen gern in Eigenregie. Jedes zweite Medikament geht inzwischen ohne Rezept über die Theke. Rezeptfrei. Dazu gehören zum einen rezeptfreie Medikamente – die man aber nur in der Apotheke bekommt, wegen der Beratungspflicht.

Und es gibt die so genannten freiverkäuflichen Arzneien bzw. Nahrungsergänzungsmittel: Pflanzenextrakte, Kräutertees, Vitamine oder Mineralstoffe. Die kauft man in Drogerien und Supermärkten erwerben kann. Ganz ohne Beratung.

Der klassische Selbstbehandler geht ungern zum Arzt

Er möchte möglichst anonym an das Präparat kommen und ohne Zeitverlust schnell die Wirkung haben. Das sind oft Menschen, die sehr leistungsorientiert sind. Die schnell wieder an ihrem Arbeitsplatz wollen. Doch ab einem gewissen Punkt kann der Nutzen in einen Schaden umschlagen, in Schmerzmittelabhängigkeit.

Schmerzen durch Schmerztabletten

Experten sprechen vom Schmerzmittelübergebrauchs-Kopfschmerz. Wer die Tabletten häufiger als an zehn Tagen im Monat einnimmt, hat ein hohes Risiko dafür. Aber auch andere Organe leiden, berichtet der Mainzer Orthopäde und Schmerztherapeut Hans-Raimund Casser.

Den meisten ist nicht bewusst, dass Leber und Niere durch einen dauerhaften Einsatz von Schmerzmitteln geschädigt werden. Wir wissen heute, dass bei einem beachtlichen Teil der Menschen, die sich einer Nierenwäsche unterziehen müssen, ein nicht gezügelter Schmerzmittelverbrauch zugrunde liegt.

Bei fünf Prozent aller Dialysepatienten, so schätzen Experten, hat eine Überdosis von Schmerzmitteln die Nieren zerstört. Für die Betroffenen heißt das: Dreimal in der Woche zur Blutwäsche, ein Leben lang. Aber das ist noch nicht alles. Denn Schmerzmittel greifen in den Organismus an ganz unterschiedlichen Stellen an:

  • Schmerzmittel können im Magen Nebenwirkungen verursachen. Das führt dann zu Magenschleimhautentzündung.
  • Schmerzmittel beeinflussen auch die Leber. Dort können sie schon bei leichten Überdosierungen zu Schäden führen. Bei Paracetamol reichen vier bis sieben Gramm, um die Leber so zu schädigen, dass man praktisch nicht mehr lebensfähig ist.
  • Schmerzmittel können auch zu psychischen Beeinträchtigungen führen: Depressionen können die Folge sein, wenn man Schmerzen nur mit Tabletten kontrollieren will.

Trotzdem sind gerade Schmerzmittel zu einer Art Lifestyle-Droge geworden, bedauert Neurologe Hartmut Göbel. Sie sind leicht verfügbar und werden bedenkenlos konsumiert:

Heute müssen Menschen funktionieren: Es muss alles schnell gehen, am besten auf einmal. Das fängt schon in der Schule an. Kinder werden mit Schmerzmitteln in die Schule geschickt. Das gleiche im Sport: man nimmt Schmerzmittel, um leistungsfähiger zu sein und den ersten Preis zu gewinnen. Das Schlimme ist, das man sich daran gewöhnt.

Werbung für rezeptfreie Medikamente ist oft irreführend

Der Pharmakritiker und Gesundheitswissenschaftler Prof. Gerd Glaeske von der Universität Bremen kritisiert die Werbung für rezeptfreie Arzneimittel. Sie suggeriere gerne, was uns angeblich alles fehlt:

Vitamine, Spurenelemente, pflanzliche Mittel zur Herzstärkung. All das ist aber nicht durch wissenschaftliche Studien belegt. Gerd Glaeske fordert seit langem ein Werbeverbot für diese Mittel. Ob Grippemittel oder Verdauungshelfer, vieles, was auf dem Markt ist, schade eher als dass es nütze. Oft sei eine Wirksamkeit gar nicht nachweisbar. Und viel schlimmer, es komme oft zu Missbrauch. Die Mittel werden häufig zu oft und zu hoch dosiert genommen. Verbraucher richteten sich gerne nach dem Motto: Viel hilft viel.

Heilpflanzen (Foto: Colourbox, Foto: Colourbox.de -)
Auch natürliche Heilpflanzen können dem Körper schaden

Dann doch lieber was Pflanzliches

Viele Menschen wähnen sich mit Medikamenten aus der „Apotheke Gottes“ auf der sicheren Seite. Ein Irrtum, sagt der Leberexperte Dr. Rainer Günther vom Universitätsklinikum Kiel: Pflanzlich ist nicht gleich harmlos. Weil dort auch Inhaltsstoffe drin sind, die zusammen mit anderen Substanzen oder auch selbst gefährlich werden können.

Warum pflanzliche Medikamente manchen schaden ist unklar

Es gibt viele Faktoren, die da zusammen wirken. Es kann eine ungünstige Wechselwirkung mit anderen Medikamenten sein. Auch die Gene spielen eine Rolle. Und das Mikrobiom, der Inhalt des Darmes, ist ebenso verantwortlich dafür, ob eine Substanz schädigt oder nicht.

Je mehr Medikamente man nimmt, desto höher ist die Gefahr der Wechselwirkungen

Besonders gefährdet durch selbst verordnete Zusatzpillen sind ältere Menschen, deren Leber und Nieren nicht mehr gut arbeiten. Oder Menschen mit Vorschäden an diesen Organen oder diejenigen, die schon andere Medikamente einnehmen. Hier nur einige Beispiele für Wechselwirkungen:

  • Ibuprofen, Diclophenac und andere Schmerzmittel können Nierenversagen auslösen – in Kombination mit Blutdruckmedikamenten.
  • Wer bestimmte Abführmittel zusammen mit Pillen gegen Herzschwäche nimmt, kann eine Vergiftung bekommen.
  • Manche Menschen haben schon ihr Spenderorgan verloren, weil sie Johanniskraut eingenommen haben – zusätzlich zu Medikamenten, die das Immunsystem dämpfen.

Leberexperte Rainer Günther vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel befürchtet, dass gerade Leberschäden durch selbst verordnete Medikamente noch zunehmen werden. Schließlich verfolgten immer mehr Menschen einen ungesunden Lebensstil - verfettete Lebern seien die Folge. Eine Fettleber arbeitet aber nicht mehr gut. Sie baut Gifte nicht mehr so effizient ab. Das erhöht das Risiko, Medikamenten-Nebenwirkungen zu erleiden. Und die fallen oft nicht auf. Denn routinemäßig kontrolliert werden die Leberwerte nicht.

Also Finger weg von der Selbstverordnung?

Nicht alle Ärzte sehen das so streng. Gerade Hausärzte betonen gern, dass frei verkäufliche Medikamente durchaus ihren Stellenwert haben. Sie sind froh, dass viele Bagatellen mit Selbstmedikation behandelt werden. Überwiegend werden diese frei verfügbaren Medikamente ja auch richtig angewendet. Eine sehr wichtige Rolle kommt dabei auch der Beratung durch die Apotheken zu.

Fragen Sie Ihren Apotheker

Das Apothekenpersonal sollte mit den Kunden klären, ob Begleiterkrankungen da sind, die die Einnahme verbieten. Oder auch andere Medikamente eingenommen werden und es Wechselwirkungen geben könnte.

Rezeptfreie Mittel sind schließlich ein Verkaufsschlager. 5,4 Milliarden Euro haben deutsche Apotheken im Jahr 2017 mit diesen Präparaten verdient, wie das Marktforschungsinstitut inside health berichtet.

Doch die Beratung in Apotheken sei oft schlecht, kritisiert Gerd Glaeske von der Universität Bremen, der mit seinem Institut regelmäßig verdeckte Testeinkäufe startet. Sein Ergebnis: zwei von drei Apotheken beraten schlecht.

Frau liegt mit Bauchschmerzen im Hotelbett (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Viele Medikamente haben nicht gewollte Nebenwirkungen

Der Markt verlagert sich - ins Internet

Gerade die Internetapotheken legen beim Umsatz rezeptfreier Pillen zu, im Jahr 2017 um ganze 16 Prozent. Doch Experten wie Rainer Günther vom Universitätsklinikum Kiel raten von Bestellungen aus dem Internet ab.

Das sei ein sehr ungeregelter und unkontrollierter Markt mit zahlreichen Präparaten aus dubiosen Quellen. Wer sich zum Beispiel ein Nahrungsergänzungsmittel aus den USA bestellt, kann unter anderem auch Produkte bekommen, die in Deutschland als Medikament eingestuft werden. Alles, was man im Ausland bestellt, wird nicht kontrolliert.

In Medikamente zur Gewichtsabnahme werden zum Beispiel gelegentlich Schilddrüsenhormone rein gemischt. Die führen dazu, dass man abnimmt, weil sich der Grundumsatz erhöht. Dabei kann man aber auch in gesundheitsgefährdende Bereiche kommen.

Im Internet gerät man auch an gefährliche Mogelpackungen

Das Ärzteteam vom Uniklinikum Kiel hat Kräuterextrakte aus Internetbestellungen untersucht und Teil festgestellt, dass in einigen Kräuterextrakten gar keine Kräuter sind. Stattdessen fanden sie Medikamente, Schmerzmittel oder auch Schwermetalle in hoher Konzentration.

Rezeptfreie Schmerzmittel dürfen künftig nur noch mit aufgedrucktem Warnhinweis vertrieben werden

Weil die rezeptfreien Mittel immer beliebter werden, hat der Gesetzgeber mit einer Verordnung vom Juni 2018 diese Notbremse gezogen. Doch den Pharmaherstellern wurden großzügige Übergangsfristen eingeräumt. Sie haben nun zwei Jahre Zeit für die Umstellung, solange dürfen alte Packungen weiter verkauft werden.

Produktion 2019

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