Noch bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts grassierte in Deutschland die Kinderlähmung (Foto: IMAGO, Imago/Fotograf XY -)

Medizingeschichte

60 Jahre Polio-Massenimpfung: "Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß"

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Gábor Paál
Gábor Paál (Foto: SWR, Oliver Reuther)

In den 1950er-Jahren erkrankten Tausende Deutsche an Polio, auch bekannt als Kinderlähmung. Die Medizin investierte in die Forschung und schließlich kam im April 1957 die erste Massenschutzimpfung – mit großem Erfolg.

So wie in den 1980er-Jahren Aids das große Thema war, war es in den 1950ern die Angst vor Kinderlähmung. Jährlich fielen in Deutschland Tausende der Krankheit zum Opfer. Die Medizin investierte in die Erforschung – in Heidelberg wurde eine große Zentrifuge gebaut, um den Erreger überhaupt erst mal zu isolieren. Das war 1953.

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Erster Impfstoff mangelhaft

In den Jahren darauf wurden die ersten Impfstoffe entwickelt, in Deutschland produziert von den Marburger Behringwerken. Die hessischen Behörden erteilten dafür bereits Ende 1954 die Genehmigung. 1955 wurden auch schon 50.000 Kinder damit geimpft. Doch nach wenigen Wochen wurde der Impfstoff wieder gesperrt.

Ein Zwischenfall in den USA hatte zu weiteren Auflagen geführt. Eigentlich handelte es sich damals um einen inaktiven Impfstoff. Durch Mängel in der Produktion waren aber nicht abgetötete Viren in den Impfstoff hineingelangt. Die Auflagen für die Impfstoffherstellung wurden ausgeweitet, auch der deutsche Impfstoff immer noch nicht freigegeben.

April 1957: Start der ersten Massenschutzimpfung mit Impfstoff aus den USA

Es war klar, dass, um schnell mit einem Impfprogramm zu starten, Impfstoff aus den USA importiert werden musste. Unklar war, ob die USA selbst genügend Impfstoff würden liefern können – denn für die US-Gesundheitsbehörden galt nachvollziehbarerweise: America first.

Im April 1957 starte schließlich die erste Massenschutzimpfung. Das große Verteilzentrum befand sich in Mannheim. Insgesamt zeigte diese erste Massenschutzimpfung noch wenig Wirkung: Die Infektionsraten gingen zunächst nur langsam zurück – und die Impfungen konnten auch eine erneute Polio-Epidemie in Deutschland Ende der 1950er-Jahre in Deutschland nicht verhindern.

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Erst Schluckimpfung ab 1961 drängt Erreger zurück

Erst die Einführung des Lebendimpfstoffs 1961 drängte den Erreger wirklich zurück. Das war die Schluckimpfung, die Kindern mit einem Stück Würfelzucker verabreicht wurde. Und um den Erfolg zu garantieren, wurde mehr als zwanzig Jahre lang den Deutschen ein Satz immer wieder eingehämmert: "Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß".

1998 wurde die Schluckimpfung hierzulande wieder abgeschafft. Seitdem wird Kindern ein weiterentwickelter Totimpfstoff injiziert, bei dem die verabreichten Viren nicht vermehrungsfähig sind. Seit 15 Jahren gilt Europa als Polio-frei. Und bis nächstes Jahr hofft die Weltgesundheitsorganisation, den Erreger auf dem gesamten Globus auszurotten.

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