Seit 100 Jahren die Welt verändern
Die Waldorfpädagogik möchte eine ernstzunehmende Stimme werden im aktuellen bildungswissenschaftlichen Diskurs. Das hundertjährige Jubiläum der Waldorfpädagogik, das 2019 mit einem großen Jubiläumsjahr und zahlreichen Fest-Veranstaltungen gefeiert wird, soll dazu den Auftakt geben. Das Motto der weltweit rund 1200 Waldorfschulen lautet: Learn to change the world.
Man wolle die Welt ändern, sei überzeugt von seinem Konzept und könne entsprechend selbstbewusst auftreten, sagt auch Henning Kullak-Ublick, Leiter der deutschlandweiten Öffentlichkeitskampagne des Bunds der Freien Waldorfschulen: „Also ich glaube, die Waldorfschule ist sicherlich eine Pädagogik, die wirklich radikal ernst damit macht, dass man den Menschen ganzheitlich anschaut. Da sind wir nach wie vor Pioniere.“ Henning Kullak-Ublick ist davon überzeugt, dass in der Waldorfpädagogik vieles vorweggenommen wurde, was heute allgemein in der Erziehungswissenschaft anerkannt sei.

Ganzheitliche Bildung steht im Zentrum
Kern der Waldorfpädagogik ist ein ganzheitliches Verständnis des Menschen und von guter Bildung. Daher rühren auch die für viele Außenstehende befremdlich anmutenden Unterrichtsmethoden. In Waldorfschulen wird nicht nur am Schultisch gerechnet und geschrieben. Selbst Fächer wie Mathe oder Englisch werden in anderer Form, etwa mittels rhythmischen Klatschens oder anhand von Bewegungsspielen erlernt. Daneben spielen Musizieren und handwerkliche Tätigkeiten eine große Rolle. Die Klassen bleiben mit ein- und demselben Klassenlehrer über viele Jahre verbunden.

Moderne Hirnforschung bestätigt Steiner
Viele Waldorfpädagogen empfinden es als ermutigend, dass die moderne Hirnforschung mit ihren neuesten Erkenntnissen das Waldorf-Konzept bestätige, sagt Professor Jost Schieren, Schulpädagoge an der Alanus Hochschule in Alftern bei Bonn. Die gleichberechtigte Förderung von intellektuell-kognitiven, künstlerisch-kreativen und handwerklich-praktischen Fähigkeiten etwa werde heute von Neurologen als moderne und effiziente Wissensvermittlung definiert, so Schieren.
Die Waldorfpädagogik habe die Bedeutung des Körperlichen erkannt, noch bevor über die Hirnforschung nun so genannte Embodiment-Aspekte an die konventionellen Erziehungswissenschaften herangetragen würden: „Wir haben eine Bildung, die lange Jahre, Jahrzehnte immer nur den Kopf adressiert hat. Steiner selbst hat mal formuliert: Der Leib ist nicht nur dafür da, den Kopf in die Schule zu tragen.“ Dementsprechend habe die Waldorfpädagogik das Leibliche von Anfang an ernst genommen, sagt Schieren.

Steiners schwieriges Erbe
Der viel schwierigere Spagat, den Waldorfschulen heute zu meistern haben, ist derjenige zwischen dem Selbstverständnis, eine moderne Pädagogik für das 21. Jahrhundert zu bieten, und andererseits das Erbe der umstrittenen Gründerfigur Rudolf Steiner zu wahren. Denn Steiner gilt nicht nur als genialischer Reformpädagoge, der dem preußischen Schulsystem aus Drill und Zucht ein alternatives und menschenfreundliches Bildungswesen entgegensetzte. In seinen anthroposophischen Schriften finden sich auch etliche antisemitische und rassistische Äußerungen. Die Waldorfschulen von heute haben sich in der so genannten Stuttgarter Erklärung von 2007 von diesen Äußerungen Steiners distanziert und sich zu weltoffenen und toleranten Einrichtungen erklärt. Das spannungsgeladene Verhältnis ist geblieben.
Nur langsame Öffnung nach außen
Die Öffnung nach außen hin fällt vielen Waldorfeinrichtungen nach wie vor schwer. Waldorfpädagoge Jost Schieren bestätigt, dass seine Disziplin lange Jahre ein Problem damit hatte, mit Kritik von außen produktiv und ernsthaft umzugehen: „Als reine Praxis-Bewegung war sie der Kritik auch ein bisschen ausgeliefert, hatte selber keine Instrumente theoretischer Art, keine Begriffs-Instrumentarien zur Verfügung, um auf die Kritik in Augenhöhe zu antworten.“
Mit der Schaffung eigener akademischer Einrichtungen und gezielter Öffentlichkeitsarbeit soll das nun besser werden. Für den Religionswissenschaftler Helmut Zander, Autor von Standardwerken zu Rudolf Steiner und der Anthroposophie, ist es unerlässlich, dass sich Vertreter der Waldorfpädagogik noch viel stärker mit der eignen Geschichte und den problematischen Seiten des Gründers befassten. Nur so könne die gesellschaftliche Öffnung letztendlich gelingen.
Waldorfschulen ein Erfolgsmodell
Den Vorbehalten in einigen Teilen der Gesellschaft zum Trotz sind Waldorfschulen sehr erfolgreich. Rund 240 dieser Schulen gibt es mittlerweile in Deutschland, Tendenz weiter steigend. An vielen Orten sind Waldorfschulen längst etablierter Teil der Bildungslandschaft. Empirische Studien, wie die des Düsseldorfer Bildungsforschers Heiner Barz, belegen zudem: Waldorfschüler gehen lieber in die Schule als andere, schneiden in den Pisa-Studien häufig besser ab als die Regelschüler.
Die Wirtschaft ist interessiert an den „Waldis“, denn Waldorfschüler gelten als lösungsorientiert, impulssetzend, zupackend und kreativ. Solche Erkenntnisse führen Vertreter der Waldorfpädagogik gerne an, um die positiven Aspekte des eigenen Ansatzes hervorzuheben. Experten ohne besondere Affinität zur Waldorfpädagogik betonen jedoch, dass die Auseinandersetzung mit Steiner gerade erst begonnen habe. Hier steht die Waldorf-Community nach wie vor am Anfang.