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Tatort Krankenhaus – Mehr Sicherheit für Patienten

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Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster
Ernst-Ludwig von Aster und Anja Schrum (Foto: SWR, Privat)
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Bei fünf bis zehn Prozent der Krankenhausbehandlungen kommt es zu unerwünschten Ereignissen. Die Ursachen: Überlastung der Mitarbeiter und Organisations- und Kommunikationsdefizite.

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Um Patienten vor Mängeln und Fehlern zu bewahren, gibt es aus Expertensicht weiter erheblichen Verbesserungsbedarf. Zu diesem Ergebnis kommen das "Aktionsbündnis Patientensicherheit" (APS) und der Verband der Ersatzkassen. Sie haben ihre Befunde im "Weißbuch Patientensicherheit" zusammengefasst.

Patientensicherheit würden oft immer noch als Kostenfaktor gesehen – dabei sei sie tatsächlich ein "Erfolgsfaktor". Wichtig sei auch mehr Transparenz, um Patienten stärker direkt einbeziehen zu können.

Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) und Ersatzkassen fordern

  • Für Kliniken müsse verpflichtend werden, sich nicht nur an internen Fehlermeldesystemen zu beteiligen, sondern auch an übergreifenden. So könnten Wiederholungen von Fehlern vermieden und Qualitätsprobleme aufgedeckt werden.
  • Krankenhäuser, Arztpraxen und Pflegedienste sollten gesetzlich dazu verpflichtet werden, Verantwortliche für Patientensicherheit einzusetzen.
  • Für Kliniken müsse es zudem bundesweit einheitliche Hygiene-Vorgaben geben. Alle Hersteller, Kliniken und Krankenkassen müssten sich am geplanten staatlichen Register für eine bessere Qualität und Sicherheit von Implantaten beteiligen.
  • Erfasst werden sollten alle "Hochrisikomedizinprodukte" wie Herzklappen oder Herzschrittmacher.

Einen wichtigen Beitrag könnten auch Betroffene und ihre Angehörige selbst leisten, die dafür aber informiert sein müssten. "Patienten sind oft die einzigen, die den gesamten Behandlungsprozess kennen", heißt es in dem Forderungspapier. Sie müssten systematisch über anstehende Behandlungen und mögliche Alternativen aufgeklärt werden. Ausgebaut werden sollten auch regelmäßige Patientenbefragungen.

Vermeidbare Todesfälle im Krankenhaus

In Deutschland wird noch immer diskutiert, ob Behandlungsfehler in Zukunft meldepflichtig sein sollen. Auch das Aktionsbündnis Patientensicherheit konnte sich nicht auf eine eindeutige Empfehlung einigen. Vorliegende Daten zeigen eindeutigen Handlungsbedarf, gerade auch in Krankenhäusern.

So sterben in Deutschland bis zu 20 Prozent mehr Patienten an den Folgen eines septischen Schocks, also einer schweren Blutvergiftung, als etwa in Australien, den USA oder Großbritannien.

15.000 bis 20.000 Todesfälle wären in Deutschland pro Jahr vermeidbar, hat das Aktionsbündnis Patientensicherheit kalkuliert. Durch ein Maßnahmenbündel, das

  • erhöhte Impfraten
  • Reduzierung vermeidbarer Krankenhausinfektionen
  • bessere Früherkennung

beinhaltet.

Durch regelmäßige Desinfektion der Hände kann die Übertragung von gefährlichen Keimen im Krankenhaus eingedämmt werden (Foto: IMAGO, imago images / Shotshop)
Durch regelmäßige Desinfektion der Hände kann die Übertragung von gefährlichen Keimen im Krankenhaus eingedämmt werden

Aktionsbündnis fordert neue Fehlerkultur

Das Aktionsbündnis wurde von Pflegekräfte und Ärzte gegründet, die wussten, dass im Krankenhaus – wie in jedem Betrieb – immer wieder Fehler passieren können. Doch Fehler nehmen nicht ab, wenn man sie verschweigt. Die APS-Gründer plädierten für eine neue Fehlerkultur. Und gingen mit gutem Beispiel voran. Sie veröffentlichten in einer Broschüre Fehler, die ihnen selbst unterlaufen waren.

Die Vorsitzende des Aktionsbündnisses Hedwig Francois-Kettner etwa hatte als junge Krankenschwester einmal versäumt, die Leberwerte eines Unfall-Patienten bestimmen zu lassen. Als sie ein Beruhigungsmittel verabreichte, kam es zu einer Unverträglichkeit. Der Patient erlitt einen anaphylaktischen Schock, konnte aber gerettet werden.

Ein Chefarzt berichtet in der Broschüre, wie er einmal das falsche Knie operierte. Ein Chirurg, wie er nach der OP eine Klemme im Bauch des Patienten vergaß.

Heute zählt das APS mehr als 700 Mitglieder, je zur Hälfte Einzelpersonen und Institutionen: Patientenorganisationen sind ebenso vertreten wie Krankenkassen, Krankenhäuser und etliche Berufsverbände. Es gibt Arbeitsgruppen zur Digitalisierung im Gesundheitswesen, zur Arzneimittel-Therapiesicherheit oder zu Medizinprodukte-Risiken.

APS mahnt – viele Krankenhäuser zögern

Schritt für Schritt Fehler benennen, ihre Entstehung analysieren und Ursachen eliminieren: Das ist die Strategie. Das Aktionsbündnis spricht Empfehlungen aus. Einige Krankenhäuser setzen sie um, andere zögern, warten auf erste Erfahrungsberichte, ziehen dann nach.

Das Aktionsbündnis Patientensicherheit mahnt weiter und publiziert Handlungsempfehlungen. Mit der Aktion „Saubere Hände“ zum Beispiel sollte die Übertragung von gefährlichen Keimen im Krankenhaus eingedämmt werden - durch regelmäßige Desinfektion der Hände des Personals. Ein Desinfektionsmittelspender pro Intensivbett war das Ziel, lange vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Begleitet von einer breiten Aufklärungskampagne für das Personal.

Doch auch wenn in der Ausbildung das Thema ausgiebig behandelt wird, am Arbeitsplatz entscheidet allzu oft der Faktor Zeit über die Umsetzung. Das weiß auch Hedwig Francois-Kettner. Seit Jahren beklagt das Aktionsbündnis die zunehmende Verdichtung der Arbeitszeit in den Kliniken.

Zur Sicherheit der Patientinnen und Patienten trägt die gute Kommunikation der Ärzt*innen und Pfleger*innen bei – auch unter Zuhilfenahme modernern Kommunikationsmittel wie Tablets (Foto: IMAGO, imago images / Westend61)
Zur Sicherheit der Patientinnen und Patienten trägt die gute Kommunikation der Ärzt*innen und Pfleger*innen bei – auch unter Zuhilfenahme modernern Kommunikationsmittel wie Tablets

Mangelnde Kommunikation als häufige Fehlerquelle muss bekämpft werden

CIRSmedical.de tippt Dr. Christian Thomeczek in die Tastatur seines Computers. CIRS – die Abkürzung steht für Critical Incident Reporting System. In CIRSmedical können alle sicherheitsrelevanten Ereignisse von Klinik-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern berichtet werden. Und zwar anonym.

Die Berichte dürfen keine Daten enthalten, die Rückschlüsse auf beteiligte Personen oder Institutionen erlauben. Diese Anonymität ist wichtig, damit ehrlich über Fehler berichtet wird.

In CIRSmedical lässt sich auch gezielt nach Fällen suchen, z.B. nach Krankenhausinfektionen, Medikamentenverwechslungen oder – ein Klassiker – nach Kommunikationsfehlern. Unter jeder anonymisierten Fall-Beschreibung finden sich die Empfehlungen der CIRS-Fachleute. Ob die auch befolgt werden, lässt sich allerdings nicht kontrollieren. Schließlich handelt es sich um ein vollständig anonymes System.

Whistleblower-Meldeplattformen in der freien Wirtschaft längst Standard

Ein weiterer Schritt zu mehr Qualitätskontrolle wären Meldeplattformen, in denen das Personal einer Klinik Missstände melden kann. Doch die Grundlage jedes solchen Whistleblower-Systems ist Vertrauen. Bei großen Unternehmen, wie etwa Auto- und Energiekonzernen, sind solche anonymisierten Meldeplattformen schon lange Standard. Mit ihnen sollen verdächtige Vorgänge direkt gemeldet werden können, ohne unbedingt Vorgesetzte kontaktieren zu müssen.

Fall Högel: Mörder wechselte Klinik mit wohlwollendem Arbeitszeugnis

Das Klinikum Oldenburg war das erste deutsche Krankenhaus, das ein derartiges System einführte. Nicht zuletzt, um seinen Patienten nach dem Fall Högel den Glauben an die Sicherheit zurückzugeben.

Dr. Dirk Tenzer übernahm 2012 die Leitung des Klinikums und musste 2014 reagieren. Die Taten lagen da bereits mehr als zehn Jahre zurück: Der Krankenpfleger Niels Högel hatte Intensiv-Patienten eine Überdosis Medikamente verabreicht, um sie dann zu reanimieren und dadurch die Aufmerksamkeit und Anerkennung seiner Kollegen zu erhalten. In vielen Fällen war die Medikamentendosis tödlich.

Nach zwei Jahren wechselte Högel, ausgestattet mit einem wohlwollenden Arbeitszeugnis, ans 40 Kilometer entfernte Krankenhaus Delmenhorst. Dort fielen ihm Dutzende weitere Patienten zum Opfer.

Nach jahrelangen Ermittlungen und der Exhumierung von mehr als einhundert Leichen wurde der Ex-Krankenpfleger im Juni 2019 wegen 85-fachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Für zwei weitere Taten war er bereits zuvor verurteilt worden.

Der Fall Niels Högel wird das Klinikum noch lange beschäftigen. Ende 2019 erhob die Oldenburger Staatsanwaltschaft Anklage gegen mehrere ehemalige und aktuelle Führungskräfte. Zu den Beschuldigten gehören der frühere Geschäftsführer, eine ehemalige Pflegedirektorin und ein früherer Chefarzt. Ihnen wirft die Staatsanwaltschaft Totschlag durch Unterlassen vor.

Anonymes Whistleblower-System am Klinikum Oldenburg

Die Ermittlungen ergaben, dass etliche Kollegen am Klinikum Oldenburg Verdacht geschöpft, ihn aber niemandem mitgeteilt hatten. Das sollte so nie wieder vorkommen. Darum führte das Klinikum Oldenburg das Whistleblower-System ein, um allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eine anonymisierte Meldeplattform zur Verfügung zu stellen. Mehr als tausend Zugriffe pro Jahr zählt Benjamin Grade, Jurist des Krankenhauses, seit der Einführung des Whistleblower-Systems. Und einige Dutzend Meldungen. Schwerwiegende Verstöße fanden sich bisher nicht darunter, lediglich ein Diebstahlvorwurf beschäftigte Grade.

Weitere Fälle werfen Frage nach Patientensicherheit auf

Oldenburg ist kein Einzelfall. An der Berliner Charité tötete vor 15 Jahren eine Krankenschwester, genannt „Todesengel“, fünf Intensiv-Patienten. In Essen wurde vor zwei Jahren ein Apotheker aus Bottrop zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er durch das Panschen von Zytostatika Hunderten von Krebspatienten geschadet hat. Verbrechen, die schlagzeilenträchtig Fragen nach der Patientensicherheit aufwerfen.

Allerdings bedrohen im Krankenhaus weniger einzelne, kriminelle Mitarbeiter die Sicherheit der Patienten. Wesentlich häufiger lauert die Gefahr im Klinik-Alltag: in Keimen, in Koordinations- und Kommunikationsfehlern und nicht zuletzt in der zunehmenden Arbeitsverdichtung auf den Stationen.

Hohe Arbeitsbelastung führt zu Übermüdung und Erschöpfung bei Ärtz'innen und Pfleger*innen. Ein Zustand, der Fehler begünstig – zum Nachteil der Patientinnen und Patienten. (Foto: IMAGO, imago images / Cavan Images)
Hohe Arbeitsbelastung führt zu Übermüdung und Erschöpfung bei Ärtz'innen und Pfleger*innen. Ein Zustand, der Fehler begünstig – zum Nachteil der Patientinnen und Patienten.

Für Patient*innen gilt: hingucken, nachfragen, mitreden

Veränderungen benötigen Verbündete, weiß Hedwig Francois-Kettner. Und einer der wichtigsten Unterstützer liegt für die APS-Vorsitzende gewissermaßen im Krankenbett. Deshalb wendet sich das Aktionsbündnis direkt an die Patienten mit Ratgebern wie: "Reden ist der beste Weg", "Thrombose in den Beinen vorbeugen", "Sicher im Krankenhaus".

Hingucken, nachfragen, mitreden – das rät Francois-Kettner. Denn es geht um nichts anderes als den Patienten.

Produktion 2018 / aktualisiert 2020

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