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Streitende Vögel, lernende Affen – Sind Tiere Kulturwesen?

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Martin Hubert
Martin Hubert (Foto: Martin Hubert)
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)
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Meta Wolfsperger

Klopfgeräusche dringen aus einem dichten Gestrüpp dicker Bäume und dunkelgrüner Pflanzen. Die Geräusche stammen von Schimpansen, die im Tai-Nationalpark von Tansania Nüsse knacken. Die Tiere hauen kräftig auf den Nüssen herum, mit ausgesuchten Hölzern, die wie Hämmer funktionieren. Zwei bis fünf Stunden lang kann man Schimpansen während der Nusssaison pro Tag bei dieser Tätigkeit beobachten. Ist das eine „Kultur“-Technik?

Die Frage, ob Affen und andere Tiere „Kultur“ haben, wird seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Sie ist schon deshalb nicht einfach zu beantworten, weil der Kulturbegriff vieldeutig schillert.

„Kultur ist für uns ein Merkmal für Menschheit und für viele war das immer eine wichtige Eigenschaft, die uns eben von den Tieren trennen sollte“, erklärt Christophe Boesch, Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und einer der führenden  Affenforscher. Die Feldstudien, die er seit den 80er Jahren in Afrika durchführt, haben ihn eines gelehrt: „Seit wir Menschenaffen in der Wildnis beobachten wird die große Kluft zwischen Menschen und Tieren immer kleiner.“

Der Mensch als einziges „Kultur“-Wesen?

Lange Zeit wurde der Mensch als „homo faber“ definiert, als das einzige Wesen, das arbeitet und Werkzeuge benutzt. Christophe Boesch und andere Primatenforscher haben diese Legende aber längst widerlegt. Doch kann man Menschenaffen und andere Tiere als „Kulturwesen“ bezeichnen, nur weil sie Werkzeuge benutzen? Der Entwicklungspsychologe Prof. Michael Tomasello, ebenfalls Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, mahnt zur Vorsicht. Denn es gäbe ein Kennzeichen menschlicher Kultur, das Tiere nicht erreichen: den permanenten Fortschritt.

Ein Schimpanse schaut durch Gitterstäbe in die Kamera (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Nicht nur Affen und Raben, sondern auch Meerkatzen, Wale und andere Tiere zeigen Verhaltensweisen, die als "kulturell" interpretiert werden könnten

Kultur im eigentlichen, menschlichen Sinn ist für Michael Tomasello auf Weiterentwicklung angelegt. Das liege daran, dass der Mensch ein radikal auf Kooperation angelegtes Wesen sei und eine gemeinsame geistige Welt erschaffen kann. Auf dieser Grundlage häuft er immer mehr Wissen und Kenntnisse an und differenziert sie aus. So entwickeln sich Technik, Wissenschaft, soziale Institutionen, moralische Systeme, Literatur, Kunst.

Doch Christophe Boesch beeindrucken diese Argumente wenig. Spezielle Höchstleistungen können für ihn nicht das Kriterium dafür sein, was eine Spezies auszeichnet. Wenn die Evolutionstheorie Recht hat, dann müssen für Boesch auch die Fundamente der Kultur bereits vor dem Menschen entstanden sein und sich bei den Tieren zeigen. Etwa die Fähigkeit, sich in den Geist anderer hinein zu versetzen. Oder das Vermögen, miteinander komplex zu kommunizieren. Oder das Bestreben, gemeinsame kulturelle Traditionen aufzubauen. Neuere Befunde legen nahe, dass vor allem Große Menschenaffen und Rabenvögel solche Eigenschaften besitzen.

Sozialverhalten als Grundlage von Kultur

Die Verhaltensbiologin Miriam Sima vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen nahe dem Starnberger See forscht an jungen Raben. Ziel des Projektes ist es, die Evolution der Sprache zu ergründen. „Eine Idee ist, dass ein Teil von Sprache sich aus Gesten entwickelt hat. Auch in der Tierwelt sind sehr viele Gesten zu beobachten“, erklärt Miriam Sima. Ein erstes Ziel war herauszufinden, ob Raben überhaupt Bewegungen zeigen, die sich als Gesten interpretieren lassen. Tatsächlich fanden die Forscher einige Bewegungen, die die Vögel offenbar zielgerichtet einsetzen, mit denen sie zum Beispiel die Aufmerksam anderer erregen. Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit mit anderen zu teilen, ist ein Grundbaustein für soziales Verhalten und gemeinsamer Kultur.

Können das auch Große Menschenaffen, wenn sie Signale austauschen? Dieser Frage ging Dr. Simone Pika, die Leiterin des Seewiesener Rabenprojekts, bei Bonobos und Schimpansen in Afrika nach. Sie suchte nach kommunikativen Eigenschaften der Tiere, die auch die menschliche Sprache kennzeichnen. Wenn Menschen miteinander in Dialog treten, entstehen rasch aufeinander folgende Sequenzen. Simone Pika fand dazu bei den Schimpansen und Bonobos verblüffende Parallelen. Schimpansen und Bonobos kommunizieren zum Teil noch enger verzahnt miteinander als Menschen.

Als Simone Pika die Beziehung zwischen Affenmüttern und ihren Kindern beobachtete, machte sie noch eine zweite interessante Entdeckung. Zu ihrer Überraschung gestikulieren Affen erstaunlich individuell. Bis heute hält sich die Theorie, dass die Gesten der Tiere angeboren sind und instinktiv vollzogen werden. Simone Pika ist auf Grund ihrer Studien anderer Ansicht: „Die neue Hypothese ist, dass auch die Schimpansen miteinander experimentieren oder eigentlich voneinander lernen.“

Die Gesten und ihre Bedeutungen lernen die Affen einer Gruppe offenbar wechselseitig und in bestimmten Kontexten. Damit kommen sie menschlicher Sprache ziemlich nahe. Bedeutungen werden nicht genetisch festgelegt, sondern sozial ausgehandelt. Sie sind daher veränderbar und können in verschiedenen Kontexten und Gruppen unterschiedlich gebraucht werden. Bonobos und Schimpansen scheinen also einige der Fähigkeiten zu besitzen, die Sprache zu einem Kulturträger machen: zu einem Medium, in dem Bedeutungen sozial entstehen, weitergegeben und weiterentwickelt werden.

Kluft zwischen Tieren und Menschen kleiner als angenommen

Die Kluft zwischen Tieren und Menschen scheint also tatsächlich auch auf dem Gebiet der Kultur kleiner zu sein als lange Zeit angenommen. Zumindest bei einigen Tierarten und was die Fundamente kulturellen Verhaltens betrifft. Christophe Boesch geht sogar noch weiter: Bei den Großen Menschenaffen reicht es ihm nicht mehr, nur von Fundamenten kulturellen Verhaltens oder von einer „einfachen Kultur“ zu sprechen.

Schimpansen besitzen für Christophe Boesch Kultur, weil sie Traditionen des Verhaltens entwickeln, die nicht genetisch erklärbar sind. Ein solches Verhalten sei allein durch kulturelles Lernen erklärbar. Allerdings weigern sich manche Primatenforscher bis heute, das als Beleg für Kultur anzusehen. Sie glauben, dass man diese Verhaltensunterschiede doch auf unterschiedliche Umweltbedingungen zurückführen könne, wenn man nur intensiv danach suche. Um das zu entkräften, hat Christophe Boesch mit anderen Wissenschaftlern vor einigen Jahren das Forschungsprojekt „The Cultured Chimpanzee“ gestartet.

Still und leise, ohne die Tiere zu stören, verschaffen Kamerafallen authentische Einblicke ins Alltagsleben der Menschenaffen. Christophe Boesch war selbst von dem sensationellen Material überrascht, das sich ihm dadurch erschloss. Christophe Boesch berichtet: „Wir haben bis jetzt ungefähr 13 termitenfischende Schimpansenpopulationen gefunden. Und wir können sagen, dass sie eine unglaubliche Vielfalt von Verhaltensformen und Werkzeugformen haben.“ Die These, dass solche Gepflogenheiten kulturell erlernt sind, wird bekräftigt, da sie in den verschiedenen Gruppen völlig homogen gebraucht werden. Wirklich alle Mitglieder einer Gruppe sitzen entweder beim Termitenfischen oder stemmen sich auf den Ellbogen oder liegen flach auf dem Boden. Es wirkt wie eine soziale Norm, der jedes einzelne Gruppenmitglied gehorcht.

Wie stark diese Gruppenkulturen wirken können, konnte Boesch auch bei Gruppenwechseln einzelner Affen beobachten. Das Bedürfnis, der neuen Gruppe anzugehören, ist so stark, dass die Tiere deren Tradition übernehmen, obwohl sie vorher eine andere gelernt hatten. Boesch appelliert daher an seine Kollegen, endlich allgemein anzuerkennen, dass Tiere Kultur besitzen.

Wie sieht die Kultur der Tiere aus?

Die wissenschaftliche Diskussion über die Kultur der Tiere wird weitergehen. Aber in Zukunft wird sie sich wohl weniger darum drehen, ob Tiere überhaupt eine Kultur besitzen. Stattdessen könnte die Wie-Frage stärker in den Vordergrund rücken. Wie sieht die Kultur der Tiere aus und wie nahe kommen sie den Fähigkeiten, die die besondere Kultur des Menschen ermöglichen? Schon jetzt warten hier weitere Rätsel darauf, gelöst zu werden.  

Eine Herausforderung: Menschen vollführen Rituale. Sie machen etwas Sinnfreies oder Zweckloses, nur um etwas zu symbolisieren oder etwas Gemeinschaftsstiftendes zu tun. Zum Beispiel tanzen sie zusammen oder versammeln sich an bestimmten Orten. Die berühmte britische Affenforscherin Jane Goodall erzählt gerne von ihren Beobachtungen an einem großen Wasserfall. Schimpansen kommen dorthin, beginnen sich rhythmisch zu bewegen oder sitzen lange bewegungslos da, um andächtig in dieses Wasser zu schauen, das ständig kommt und vergeht. Gemeinschaftsstiftende Rituale? Ein Sinn für Übernatürliches bei Schimpansen? Man sollte weiterhin vorsichtig bleiben und Tiere nicht völlig mit dem Kulturwesen „Mensch“ gleichsetzen. Aber die Verbindungslinien sind nicht mehr zu leugnen.

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