Puccinis „La Bohème“ mit Teodor Currentzis im Festspielhaus Baden-Baden

Keine Angst vor Emotionen

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Klangzauberer an der Oos. Unter der Leitung von Teodor Currentzis feierte Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“ mit MusicAeterna Premiere bei den Baden-Badener Herbstfestspiele. Wie sich der zukünftige Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters mit diesem Stoff auseinandergesetzt hat, erörtern Ulla Zierau und Burkhard Egdorf im Gespräch.

Am 1. Februar 1896 wurde Giacomo Puccinis vierte Oper unter der Leitung von Arturo Toscanini am Teatro Regio in Turin aus der Taufe gehoben und nach wenig erfolgreicher Uraufführung rasend schnell ein Welterfolg. Vorlage für Puccini war der Roman  „Les scènes de la vie de bohème“ von Henri Murger. Der Komponist fand darin nach eigenen Worten: „die Frische, die Jugend, die Leidenschaft, die Fröhlichkeit, die schweigend vergossenen Tränen, die Liebe mit ihren Freuden und Leiden.“  „Das ist Menschlichkeit“, resümierte er. Nun wurde „La Bohème“ im Rahmen der Herbstfestspiele Baden-Baden im Festspielhaus auf die Bühne gebracht. Philipp Himmelmann hatte die Oper inszeniert. Und Teodor Currentzis war der Dirigent. Der künftige Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters hatte sein spektakuläres Ensemble aus seinem Theater in Perm mit gebracht. Chor und Orchester MusicAeterna des Tschaikowsky-Theaters im 1.100 Kilometer von Moskau entfernten Perm. Und auch die Solistenschar, die sich in Baden-Baden präsentierte, ist mehr oder weniger fest der Oper in Perm verpflichtet.

Die beiden Aufführungen wurden sehnlichst erwartet und mit hohen Vorschusslorbeeren bedacht, man hat sehr viel erwartet, ist es spektakulär gewesen, Ulla?
Teils, teils. Es war keine Sensation, es war auch nicht das Werk gegen den Strich gebürstet – Gott sei Dank, muss man sagen – und es war auch keine Bohème, die man vorher so noch nie gehört hat. Das war mir etwas zu hoch angesiedelt. Was aber gleichwohl unglaublich beeindruckend war, das war das detailgenaue Musizieren dieses herausragenden Orchesters und des Chores MusicaAeterna. Die fein herausgearbeiteten Solostellen in den Bläsern und in den Streichern – das fand ich schon sehr beeindruckend.

Das war nicht „eine große Soße“, sondern das war unglaublich differenziert, glitzernd. Ich fand das Orchester aber am Anfang manchmal zu laut.
Das ging mir auch so. Da taten mir die Sänger ein bisschen leid. Gerade die Forte-Stellen waren zum Teil ein bisschen brutal. Das hat sich aber im Laufe der Zeit gebessert. Da hatte Currentzis doch ein feines Gespür für die Begleitung der Sänger.

Das Orchester saß ja ein bisschen anders als gewohnt.
Ja, das fand ich sehr interessant. Die Harfe saß mitten im Orchester. Das hat sehr schön eine ganz eigene klangliche Entfaltung gehabt. Und die Harfe hat ja sehr viel zu tun in der Bohème. Vielleicht können wir uns ein Stück anhören, wo man das sehr schön wahrnehmen kann.

[Musikeinspielung]

Das war aus dem ersten Bild. Wo wir beim Bild sind von La Bohème – es hat die ganze Zeit geschneit.
Das war die Kälte Russlands vielleicht, ich weiß es nicht. Das hat mich aber gar nicht so sehr gestört. Mir war in manchen Szenen ein bisschen zu viel Gimmick drin, zu viel Unruhe.

Wir haben es nicht gesagt: Philipp Himmelmann hat die Bohème 110 Jahre später angesetzt. Im Zeitalter der 68er mit Demonstranten, vielen theoretischen Büchern und eben dieser ganzen aufgeheizten Stimmung. Hat das denn hingehauen?
Im ersten Bild hat es mich nicht gestört, da war diese Mansarde eingerichtet mit bunt durcheinander gewürfelten Sperrmüllmöbeln. Im zweiten Bild hat sich mir aber nicht erklärt, wozu ich diese Studentenrevolte brauche, die fand ich etwas überzogen und sie hat auch abgelenkt von der Handlung. Und zu Beginn des vierten Bildes, als die beiden Künstler erst alleine in der Wohnung sind, dann die Freunde dazukommen, schließlich tanzen und ganz wild alles durcheinanderwirbeln, da hat sich mir ebenso nicht erklärt, dass Bücher zerrissen, Möbel umgestoßen und weggeworfen werden. Das war ein Chaos.

Deswegen konnte Mimi, die Todkranke, dann auch nicht auf das Zimmer kommen.
Die Inszenierung war nicht unlogisch, aber meines Erachtens hat sie nicht richtig zur Oper gepasst. Vor allem im  Schlussbild – da fallen die sechs Protagonisten quasi aus der Mansarde heraus. Mimi liegt auf der Straße oder im Treppenhaus, das weiß man nicht so genau. In der Schneelandschaft stehen dann die Protagonisten isoliert auf der Bühne. Da hat mir diese enge Verbundenheit und dieses Miteinander gefehlt. Im Libretto heißt es ja, dass es ein Akt der Barmherzigkeit ist, dass Musetta ihre Ohrringe verkaufen möchte, um Geld für einen Muff, für Medikamente und für einen Arzt zu haben. Colline versetzt seinen Mantel, um helfen zu können. Und das geht natürlich in dieser isolierten Stellung verloren.

Es blieb Einsamkeit, ein bisschen wie in „Manon Lescaut“.
Eigentlich ja. Aber ich bin der Meinung, dass das in der Bohème nicht unbedingt so sein muss.

Uns gemeinsam hat ja die Mimi begeistert.
Ja, eine tolle Sängerin: Zarina Abaeva, aus dem Ensemble von Currentzis, aus dem Theater Perm. Eine junge Frau, die hervorragend gesungen hat. Sie hatte eine solche Wärme in der Stimme, einen solch lyrischen Sopran mit feinsten Tönen, mit einer stupenden Technik, was die Pianotöne anging. Sie hat mit einem Hauch ihrer Stimme den ganzen Raum erfüllt. Man hätte wirklich eine Stecknadel fallen hören können. Das war ganz großartig.

Da hören wir auch ein Beispiel.

[Musikeinspielung]

Wir saßen gestern nebeneinander, haben die Aufführung zusammen gesehen und waren uns auch einig, dass nicht nur Zarina Abaeva hervorragend war, sondern auch Sofia Fomina als Musetta.
Ja, unglaublich. Ein temperamentvolles, sprühendes, schauspielerisches Talent.

Die hatte Energie und Farbenreichtum –
Unglaublich, ja. Eine tolle Stimme, kokett, ganz großartig. Die Frauen waren wirklich sehr groß.

Mir haben die Männer eigentlich auch gut gefallen, aber erstaunlicherweise der Rodolfo am wenigsten (Anm.: gesungen von Leonardo Capalbo).
Ja, ging mir auch so. Ich hatte ein bisschen das Gefühl, dass er Schwierigkeiten in den Höhen hatte. Er hatte eine leicht wackelnde, flackernde Stimme und für einen jungen Tenor erstaunlich viel Vibrato. Und mir hat ein bisschen das Belcantistische gefehlt, also der Samt in der Stimme.

Das Orchester wurde aber immer schöner, fand ich. Im Laufe der Zeit ist es wirklich grandios geworden. Und mir war aufgefallen, dass sich das Ende fast wie eine Zeitdehnung ereignet hat.
Ja, das war wirklich sehr mutig von Currentzis – dass er sich unglaublich Zeit gelassen, Rubati an Rubati gekettet hat. Das fand ich sehr beeindruckend.

Das Quartier Latin haben wir schon erwähnt, es wurde fast ohne Einrichtungsgegenstände auf die Bühne gebracht. Aber musikalisch war alles sehr brillant und man darf auch den Cantus Iuvenum, den Kinderchor, nicht unerwähnt lassen.
Aus Karlsruhe, genau. Ja, der war sehr gut. Die Kinder waren brillant vorbereitet und haben toll gesungen.

Mit den anderen Choristen aus Perm.
Stimmlich war diese Szene wirklich fantastisch. Gerade dieses Sextett, wo die Protagonisten sich wieder annähern und Musetta eine große Eifersuchtsszene aufbeschwört. Das ist eine sehr schöne Stelle, die wir uns vielleicht auch noch kurz anhören.

[Musikeinspielung]

Die Regie von Philipp Himmelmann fand ich sehr ambivalent. Einerseits ein bisschen überladen und auf der anderen Seite, gerade im Quartier Latin, gab es ganz viele Personenführungen, die ich sehr gelungen fand.
Ja, die Personenführung fand ich ohnehin gelungen. Mich haben dieser Gimmick und diese Übertriebenheiten gestört, aber die Personenführung war sehr stimmig – auch diese Gegenüberstellung der beiden unterschiedlichen Paare: einmal das komische Paar, dann das dramatische Paar. Das war sehr gelungen und musikalisch sehr fein herausgearbeitet.

Ulla Zierau, vielen Dank.

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SWR