Buch-Tipp

„Und Vorhang auf, Hallo!“ Barrie Koskys Biografie: Von den Muppets zu Tränen gerührt

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Bernd Künzig
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Sebastian Kiefl

Bis 2022 war der Regisseur Barrie Kosky Intendant der Komischen Oper in Berlin. Mit seinen Inszenierungen deutsch-jüdischer Operetten aber auch der großen Werke der Opernliteratur ist das australische Energiebündel mittlerweile zu einem der gefragtesten Regisseure des Musiktheaters geworden. Jetzt gibt er in seinem Buch „Und Vorhang auf, Hallo!“ Einblicke in seine Biografie und seine Inszenierungskunst.

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Die Muppets: Eine Schule fürs Leben

Für Barrie Kosky war die „Muppet-Show“ eine Schule fürs Leben. Denn die Nöte des Theaterleiters und Intendanten, das sich Herumschlagen mit schweinischen Diven wie Miss Piggy und anderen Störfaktoren des Betriebs, hat ihm den tapferen Frosch zum Vorbild gemacht. „Man muss nur Kermit zuschauen, um zu verstehen, was es heißt, Regisseur:in oder Intendant:in zu sein“, schreibt Kosky in seinem neuen Buch, dem er kurzerhand eine Zeile aus dem Eingangssong der Muppet-Show für seinen Titel entlehnt hat: „Und Vorhang auf, Hallo!“

Kosky spiegelt sich in diesen Puppen wider: „Ich bin zu einer Art Mischung aus einem Schwuchtel-Frosch, einer Schweine-Dragqueen und einem traurigen, jüdischen Bär geworden. Wann immer ich die Anfangsmelodie höre, bekomme ich gute Laune und Tränen in den Augen.“

Gleichberechtigte Kulturformen

Auf der anderen Seite ist ihm der ganz anders schwergewichtig gelagerte Autor Franz Kafka zur wichtigsten Einflussgröße geworden. Immerhin hat der einige Parabeln mit Tieren geschrieben, die durchaus ihren Platz in der Muppet-Show finden könnten. Ein Kontrastprogramm ist das für Kosky nun gar nicht.

Er ist ein auf der anderen Erdhälfte sozialisierter schwuler Australier, der nichts mit dem intellektuellen Dünkel des Europäers zu tun hat, der in Schubladen verteilt und Hoch und Nieder, High and Low so gerne voneinander getrennt hält. Oper und Operette, Musical oder Varieté – das sind für Kosky alles gleichberechtigte Formen des Musiktheaters mit unterschiedlichen Mitteln, aber kaum qualitativem Gefälle.

Ein Fan von Gegensätzen

Es war die jüdisch-ungarische Großmutter Magda mit ihrer Plattensammlung und den Opern- und Operettenbesuchen, die ihm zur wichtigsten Lehrerin wurde. Emmerich Kálmáns slawisch glühende Operette „Gräfin Mariza“ und Richard Wagners schwerblütiges Musikdrama „Tristan und Isolde“ waren ihre kaum kompatiblen Lieblingsstücke.

Barrie Kosky bei der Präsentation des Programms der Spielzeit 20212022 in der Komischen Oper. (Foto: IMAGO, IMAGO / Future Image)
Barrie Kosky gründet 1990 in Australien die „Gilgul Theatre Company“. Gilgul (hebräisch) bedeutet im Deutschen Seelenwanderung, Kosky sagt „Sellen müssen von Komponist:innen zu Regiseur:innen, Sänger:innen und letztlich zum Publikum ziehen.“

„Ich habe eine so unglaubliche Kindheit gehabt, wo meine Eltern und Großeltern mich zu allem gebracht haben: Klassischer Tanz, Zeitgenössischer Tanz, Musicals, Filme, Oper, Sprechtheater, das ganze Spektrum von darstellerischer Kunst und es war keine Trennung für mich, es war immer eine Verbindung von Musik, Bewegung, Körperlichkeit und Text auf der Bühne. Theater ist ein riesig großer Kosmos und nicht nur ein Planet. Und Musiktheater gehört dann zu dieser Idee, dass man ein Instrument hat: Stimme und Körper.“

So erzählt Barrie Kosky im ersten Kapitel „Mariza Down Under“, das auf Kálmáns Operette in Australien anspielt, nicht nur die Erinnerung an das familiale, ihn prägende Umfeld, sondern auch, wie er zu dem so ungemein spielfreudigen, lustbetonten Regisseur wurde, der heute weltweit für seine Inszenierungen gefeiert wird.

Wiederentdecke Klangkultur in der Komischen Oper Berlin

Von 2012 bis 2022 wird Kosky als Intendant der Komischen Oper in Berlin zum prädestinierten Wiederentdecker der deutsch-jüdischen Operette, die von den Nazis aus dem Vorgängerbau, dem Metropol-Theater, vertrieben wurde.

Der enorme Erfolg dieser Kampagne verdankt sich laut Kosky der eigentlich sonst vor allem für die Barockoper genutzten historisch-informierten Aufführungspraxis. Es galt, die üppige Klangkultur, die Leichtigkeit und das Improvisatorische dieses Musiktheaters wiederzuentdecken und zu verlebendigen.

Inszenierung des wagnerischen Antisemitismus

Dass dieser Regisseur seine existentiellen Schwierigkeiten haben musste, als er bei den Bayreuther Festspielen 2017 ausgerechnet Richard Wagners deutschestes und mit antisemitischen Tendenzen durchsetztes Stück „Die Meistersinger von Nürnberg“ inszeniert, verwundert da kaum.

Das der Hauptfigur Hans Sachs gewidmete Kapitel ist ein Lehr- und Meisterstück der Wagner-Essayistik und zeigt, wie es gelingt, den auf der Schulter sitzenden, beständig ins Ohr plärrenden antisemitischen Wagner-Dibbuk auszutreiben, um zum Genuss der „teils wunderschönen Kantilenen“ zu finden, wie Kosky ganz richtig meint.

Ein Buch ohne trockene Analyse

Die übrigen Kapitel sind Lieblingsstücken und -figuren gewidmet: der Tatjana aus Tschaikowskys „Eugen Onegin“, Richard Strauss‘ „Salome“, Giacomo Puccinis „Tosca“ und dem Mackie Messer aus Brecht/Weills „Dreigroschenoper“. Eine trockene Analyse oder Beschreibung seiner für ihn wichtigen Schlüsselinszenierungen dieser Werke erspart Kosky den Leserinnen und Lesern. Denn wichtiger ist der Weg dorthin, die Benennung der Anregungen, Inspirationen aus der Welt queerer Kunst, der Malerei, der Literatur oder des Kinos und die offene Probenarbeit, die erst zum Ziel führt.

Alles in allem ein brillant geschriebenes, sehr persönliches Buch voll deutsch-jüdisch-australischer Erinnerungskultur, das ohne penetrante Absicht auch zu einer lebendigen und aktuellen Fundgrube einer praxisorientierten, gestalterischen Theorie des Musiktheaters heute wird. Ein Opernwunder und bezauberndes Meisterstück.   

SWR2 Zur Person Der Regisseur und Intendant Barrie Kosky

Ein "schwules jüdisches Känguru" nannte sich der Regisseur und Intendant der Komischen Oper Barrie Kosky selbst einmal. Seit 2012 leitet der in Melbourne geborene Kosky äußerst erfolgreich das Berliner Haus. Auch international ist der bildstarke, oft den Sängerkörper in den Mittelpunkt stellende Regisseur gefragt.
Mit Wagner hat er sich in Bayreuth kritisch wie spielfreudig auseinandergesetzt, seine "Salome" an der Oper Frankfurt war in ihrer radikalen Reduktion ein Sensationserfolg. Seine besondere Liebe gehört dem Verdrängten: nämlich all den versunkenen Berliner Operetten jüdischer Komponisten.

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"Kunst der Oberfläche" Brandl-Risi, Bettina | Risi, Clemens: Kunst der Oberfläche. Operette zwischen Bravour und Banalität

Interpreten und Werke sowie Grenzüberschreitungen der Gattung Operette zur Revue und zur Tonfilmoperette kommen zur Sprache in dem 224 Seiten starken Band, der Operettenverächtern wie -verehrern nur wärmstens empfohlen werden kann. Er thematisiert teils gelehrt, teils theaterpraktisch alle wesentlichen Aspekte der schillernden Gattung Operette.

Intendant der Komischen Oper Berlin Barrie Kosky im Gespräch

Als Barrie Kosky im Jahr 2012 die Leitung der Komischen Oper in Berlin übernahm, stand das Haus auf wackligem Fundament. Immer wieder drohte die Schließung, immerhin hat Berlin drei Opernhäuser. Inzwischen ist davon keine Rede mehr.

Kulturmedienschau Barrie Kosky hat sich von der Komischen Oper verabschiedet | 13.6.2022

Mit einer großen Revue hat sich Intendant Barrie Kosky von der Komischen Oper verabschiedet. Der jüdische Australier leitete das Haus zehn Jahre lang äußerst erfolgreich. Weniger harmonisch vollzieht sich dagegen die Trennung der Schriftstellervereinigung PEN Deutschland und PEN Berlin.

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