75. Geburtstag des Musical-Moguls

Das Phantom der platten Ausstattungsorgien? Andrew Lloyd Webbers Musicals in Deutschland

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Nick Sternitzke
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Dominic Konrad

Andrew Lloyd Webber ist der Mann hinter großen Musical-Inszenierungen, die teilweise Jahrzehnte an einem Spielort laufen: „Cats“, „Das Phantom der Oper“, „Starlight Express“, „Sunset Boulevard“. Lloyd Webber ist nicht nur Komponist, sondern auch Produzent seiner eigenen Stücke. Am 22.03.2023 wird der Brite 75 Jahre alt.

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Das wöchentliche Meeting in Lloyd Webbers Musical-Schmiede

London, Hauptsitz der Really Uselful Group. Das wöchentliche Meeting steht an und die Angestellten stehen Kopf: Andrew Lloyd Webber, Chef des Unternehmens, hat sich angekündigt und bereits am lackierten Kirschbaumholz-Flügel Platz genommen.

Um ihn herum, im relativ beengten Konferenzzimmer mit Backsteinwand und Samtstühlen, scharen sich Sekretärinnen, Produzenten und Lloyd Webbers Orchestrator David Cullen.

Angespannt sitzen sie auf der Stuhlkante, hochkonzentriert, während der Maestro, die Augen geschlossen, am Instrument eine neue Idee vorspielt, oder sogar improvisiert. Nach der Darbietung verlässt er das Meeting. Und in der Luft hängen noch die Fetzen von Melodien, eine jede von ihnen hitverdächtig. 

Eine Karriere in Bildern: Andrew Lloyd Webbers erfolgreichste Musicals

Andrew Lloyd Webber und Tim Rice (1973) (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / ASSOCIATED PRESS | -)
Gerade einmal 17 Jahre alt ist Andrew Lloyd Webber (rechts), als er 1965 den 20-jährigen Songwriter Tim Rice kennenlernt. 1970 gelingt ihnen ein skandalumwitterter Erfolg … Bild in Detailansicht öffnen
„Jesus Christ Superstar“! Das Musical erzählt in Form einer Rockoper die biblische Passionsgeschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem bis zur Kreuzigung. Gläubige Christen sind empört, denn zu großen Teilen wird die Handlung aus der Perspektive von Judas Iskariot erzählt. Bild in Detailansicht öffnen
„Weine nicht um mich, Argentinien“. In „Evita“ nehmen sich Lloyd Webber und Rice 1976 die Lebensgeschichte von Eva Perón vor: der Aufstieg einer Frau aus ärmlichen Verhältnissen zur populistisch verklärten Mutter des Volkes. Bild in Detailansicht öffnen
Ende der 1970er-Jahre gehen Songwriter und Komponist getrennte Wege. In „Cats“ verarbeitet Lloyd Webber eine Auswahl von Gedichten aus T.S. Eliots „Old Possums Katzenbuch“ ... Bild in Detailansicht öffnen
... zu einem episodenhaft erzählten Musical über streunende Katzen. Die Ballade „Memory“ (deutsch: „Erinnerung“) wird zum Welthit. Bild in Detailansicht öffnen
Lloyd Webber versucht, auch in der ernsten Musik Fuß zu fassen. Am 24. Februar 1985 wird in New York sein „Requiem“ uraufgeführt. Lorin Maazel dirigiert, als Solisten singen Plácido Domingo und Lloyd Webbers damalige Ehefrau Sarah Brightman. Bild in Detailansicht öffnen
Sarah Brightman übernimmt auch die weibliche Hauptrolle in Lloyd Webbers nächstem Projekt: Das „Phantom der Oper“ treibt in der Pariser Oper sein Unwesen und zieht die junge Sängerin Christine Daaé in seinen Bann. Bild in Detailansicht öffnen
Die Adaption des Romans von Gaston Leroux wird ein Welterfolg. In London läuft das Musical seit 1986, die New Yorker Produktion wird im April 2023 ihre Pforten schließen – nach 35 Jahren. Bild in Detailansicht öffnen
2010 versucht Lloyd Webber, den Welterfolg des Phantoms mit einem zweiten Teil zu wiederholen und scheitert: „Liebe stirbt nie“ („Love Never Dies“) wird von der Kritik verrissen und kann auch beim Publikum nicht überzeugen. Bild in Detailansicht öffnen
Keiner kann es besser als die Dampflok: „Starlight Express“ ist das langlebigste Musical Deutschlands. Seit 1988 läuft die deutsche Produktion in Bochum. Bild in Detailansicht öffnen
Eins seiner ersten Musicals unterzieht Lloyd Webber Anfang der 1990er-Jahre einer Frischzellenkur. „Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat“ schafft es mit dem Song „Wie vom Traum verführt“ an die Spitze der deutschen Hitparade. Bild in Detailansicht öffnen
1993 adaptiert Lloyd Webber Billy Wilders Hollywood-Satire „Boulevard der Dämmerung“ für die Bühne. Für die deutsche Erstaufführung von „Sunset Boulevard“ mit Helen Schneider und Uwe Kröger wird bei Wiesbaden eigens das Rhein-Main-Theater errichtet. Bild in Detailansicht öffnen
Das üppig orchestrierte Musical erzählt von der vergessenen Stummfilmdiva Norma Desmond, die im Glauben lebt, noch immer ein großer Hollywoodstar zu sein. Helen Schneider spielt die Rolle erneut 2011 bei den Festspielen im hessischen Bad Hersfeld. Bild in Detailansicht öffnen
2006 zeichnet das Kennedy Center Andrew Lloyd Webber neben Zubin Mehta, Steven Spielberg, Dolly Parton und Smokey Robinson für seine kulturellen Verdienste aus. Es ist eine der höchsten Ehren der USA. Bild in Detailansicht öffnen
Mit Julian Fellowes, dem Autor von „Downton Abbey“, arbeitet Lloyd Webber 2015 an „School of Rock“. Die Komödie über einen erfolglosen Rockmusiker, der Lehrer an einer Privatschule wird, läuft vier Jahre am Westend und am Broadway. Bild in Detailansicht öffnen
Der Emmy für das TV-Event „Jesus Christ Superstar Live in Concert“ (2018) macht Andrew Lloyd Webber zum EGOT-Gewinner: Er ist einer von insgesamt 18 Menschen, die alle vier großen Unterhaltungspreise der USA gewonnen haben. Bild in Detailansicht öffnen
Mit 75 weiterhin voll im Geschäft: Andrew Lloyd Webbers neuestes Projekt ist „Bad Cinderella“, eine modernisierte Pop-Version von „Aschenputtel“. Am 23. März feiert die Produktion ihre Broadway-Premiere. Bild in Detailansicht öffnen

Lloyd Webbers Kompositionswerkstatt erinnert an die von Johann Strauß

Kevin Clarke, Musikwissenschaftler, Autor von „Breaking Free – Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals“, hat Lloyd Webbers Orchestrator David Cullen getroffen und Einblicke in die Kompositionswerkstatt erhalten:

„David Cullen erzählte mir, dass es seine Aufgabe war, diese Melodien aufzuschreiben, sie auszuarbeiten, harmonisch mit Kontrapunkt, um sie dann in der nächsten Woche, wenn sie sich wieder alle treffen, als fertigen Song auf den Tisch zu legen.“

Ein bisschen sei das vergleichbar mit Johann Strauß, der seinerzeit am Theater an der Wien mit Richard Genée gearbeitet habe, erklärt Clarke. „Richard Genée wurde dann abgefunden, und Strauß hat die berühmten Melodien und seinen Namen geliefert. Und Lloyd Webber macht das auch ein bisschen so.“

Lloyd Webbers frühester Erfolg: „Jesus Christ Superstar“ (Tournee 2012)

Der Londoner Melodienerfinder mit der großen Geste

Aber nicht wegen mangelnder musikalischer Ausbildung. Andrew Lloyd Webber hat am Londoner Royal College of Music studiert, sieht sich aber inzwischen vielmehr als großen Melodiensucher und -erfinder, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Das ist sein Markenzeichen: die große Geste, der innere Konflikt einer Figur, den er in Melodiebögen ausbuchstabiert, die unmittelbar treffen und genau kalkuliert sind, etwa in „The Phantom of the Opera“, dem kommerziell erfolgreichsten Musical weltweit. 

„Wo Puccini-Geigenklänge einen überschwappen, ist diese Rock-Ader ganz stark zu spüren“, erklärt Kevin Clarke, „vor allem im Titelsong mit diesem Bass, der da drin ist, und diese Effekte, die er da immer wieder baut.“

Ausschnitte der Gala-Aufführung zum 25. Geburtstag von „The Phantom of the Opera“, 2011

Andrew Lloyd Webber brachte Rock und Pop ins Musical

Andrew Lloyd Webber, dessen Rockmusik-Ader auch in anderen Stücken pulsiert, hat den behaglichen 50er-60er-Jahre-Muff vom Broadway gepustet. Das junge Publikum hatte sich schon längst nicht mehr für die glitzernden „Showtunes“ von Cole Porter und anderen Broadway-Heiligen interessiert.

Lloyd Webber greift die modernen Rock- und Pop-Strömungen auf und macht das Musical wieder Charts-tauglich und attraktiv, auch für den Unterhaltungsmarkt im deutschen Sprachraum.

Damit beginnt ein Kapitel Musicalgeschichte, das dem Genre nicht den besten Ruf einbringen wird. 

Ein vertonter Gedichtzyklus von T.S. Elliot, zumindest auf Englisch: „Cats“

In Deutschland kranken Lloyd Webbers Stücke an der Übersetzung ...

Wenn man jetzt mal die Gedichte von T.S. Elliot, die Lloyd Webber in „Cats“ vertont hat, neben die deutschsprachige Übersetzung von Michael Kunze legt, dann ist das wie Himmel und Hölle.

„‚Allerdings‘ reimt Michael Kunze auf ‚Sphinx‘. Gut, das hat immerhin noch etwas mit Katzen zu tun – aber poetisch ...?“, fragt sich Musical-Experte Clarke. Mit so schrecklichen Texten, wie man sie hier hört, wäre Lloyd Webber in England und Amerika niemals so erfolgreich gewesen.

... aber vor allem an der Besetzung

Die deutschen Übersetzungen der Lloyd-Webber-Musicals sind aber nicht das größte Problem, sondern die Besetzungen. Vergleichbar ist das mit der „Traumschiff“-Reihe: Diese dürftigen Drehbuch-Zeilen funktionieren nur dann annähernd, wenn sie von gestandenen Schauspielgrößen vorgetragen werden.

Andrew Lloyd Webber hat seine Stücke in London oder New York mit hochkarätigen Charakterschauspielerinnen und -schauspielern besetzt: mit der Theatergröße Patti LuPone in „Cats“ oder der Hollywood-Ikone Glenn Close in „Sunset Boulevard“.

Schauspielerin Glenn Close in der Rolle der Norma Desmond aus „Sunset Boulevard“

Sind Lloyd Webbers Musicals nur platte Ausstattungsorgien?

Im deutschsprachigen Raum kommen Star-Besetzungen von ähnlichem Format kaum zustande. Mit der Lloyd-Webber-Welle, die Wien und Hamburg in den 1980er-Jahren erfasst hat, verhärtet sich vor allem ein Bild von Musical: eine Ausstattungsorgie, die ein abgerichtetes Ensemble allabendlich reproduziert und das Broadway-Vorbild imitiert, nicht aber etwas Eigenes kreiert. 

„Mir scheint, dass die Deutschen die Schlager-Zugänglichkeit von Lloyd Webber mögen und ihn abgestempelt haben als einen Komponisten, bei dem dann die Katzen oder die Rollschuhfahrer vorbeisausen oder die Phantome von der Decke fallen mit einem Kronleuchter“, resümiert Kevin Clarke. „Und das ist natürlich eine sehr simplifizierte Version von dem, was Musical ist, und auch von dem, was Lloyd Webber geschaffen hat.“

Auch jetzt, wo Andrew Lloyd Webber seinen 75. Geburtstag feiert, ist er immer noch auf der Suche nach neuen Stoffen, und bringt mit „Bad Cinderella“ eine feministische und rockige Deutung des Märchen-Stoffs auf die Bühne. Ausruhen auf vergangenen Mega-Erfolgen, wäre langweilig.  

Musical-Komponist Von singenden Katzen und swingenden Zügen: Andrew Lloyd Webber wird 75

„Das Phantom der Oper“, „Starlight Express“ oder „Evita”: Kaum ein Komponist hat so viele erfolgreiche Musicals auf die Bühne gebracht wie Sir Andrew Lloyd Webber. Seine opulenten Produktionen begeistern ein Massenpublikum, auch wenn sie musikalisch gerne als seichte Unterhaltung belächelt werden. Am 22. März feiert der Komponist seinen 75. Geburtstag.

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