Andrew Lloyd Webber ist der Mann hinter großen Musical-Inszenierungen, die teilweise Jahrzehnte an einem Spielort laufen: „Cats“, „Das Phantom der Oper“, „Starlight Express“, „Sunset Boulevard“. Lloyd Webber ist nicht nur Komponist, sondern auch Produzent seiner eigenen Stücke. Am 22.03.2023 wird der Brite 75 Jahre alt.
Das wöchentliche Meeting in Lloyd Webbers Musical-Schmiede
London, Hauptsitz der Really Uselful Group. Das wöchentliche Meeting steht an und die Angestellten stehen Kopf: Andrew Lloyd Webber, Chef des Unternehmens, hat sich angekündigt und bereits am lackierten Kirschbaumholz-Flügel Platz genommen.
Um ihn herum, im relativ beengten Konferenzzimmer mit Backsteinwand und Samtstühlen, scharen sich Sekretärinnen, Produzenten und Lloyd Webbers Orchestrator David Cullen.
Angespannt sitzen sie auf der Stuhlkante, hochkonzentriert, während der Maestro, die Augen geschlossen, am Instrument eine neue Idee vorspielt, oder sogar improvisiert. Nach der Darbietung verlässt er das Meeting. Und in der Luft hängen noch die Fetzen von Melodien, eine jede von ihnen hitverdächtig.
Eine Karriere in Bildern: Andrew Lloyd Webbers erfolgreichste Musicals

Lloyd Webbers Kompositionswerkstatt erinnert an die von Johann Strauß
Kevin Clarke, Musikwissenschaftler, Autor von „Breaking Free – Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals“, hat Lloyd Webbers Orchestrator David Cullen getroffen und Einblicke in die Kompositionswerkstatt erhalten:
„David Cullen erzählte mir, dass es seine Aufgabe war, diese Melodien aufzuschreiben, sie auszuarbeiten, harmonisch mit Kontrapunkt, um sie dann in der nächsten Woche, wenn sie sich wieder alle treffen, als fertigen Song auf den Tisch zu legen.“
Ein bisschen sei das vergleichbar mit Johann Strauß, der seinerzeit am Theater an der Wien mit Richard Genée gearbeitet habe, erklärt Clarke. „Richard Genée wurde dann abgefunden, und Strauß hat die berühmten Melodien und seinen Namen geliefert. Und Lloyd Webber macht das auch ein bisschen so.“
Lloyd Webbers frühester Erfolg: „Jesus Christ Superstar“ (Tournee 2012)
Der Londoner Melodienerfinder mit der großen Geste
Aber nicht wegen mangelnder musikalischer Ausbildung. Andrew Lloyd Webber hat am Londoner Royal College of Music studiert, sieht sich aber inzwischen vielmehr als großen Melodiensucher und -erfinder, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Das ist sein Markenzeichen: die große Geste, der innere Konflikt einer Figur, den er in Melodiebögen ausbuchstabiert, die unmittelbar treffen und genau kalkuliert sind, etwa in „The Phantom of the Opera“, dem kommerziell erfolgreichsten Musical weltweit.
„Wo Puccini-Geigenklänge einen überschwappen, ist diese Rock-Ader ganz stark zu spüren“, erklärt Kevin Clarke, „vor allem im Titelsong mit diesem Bass, der da drin ist, und diese Effekte, die er da immer wieder baut.“
Ausschnitte der Gala-Aufführung zum 25. Geburtstag von „The Phantom of the Opera“, 2011
Andrew Lloyd Webber brachte Rock und Pop ins Musical
Andrew Lloyd Webber, dessen Rockmusik-Ader auch in anderen Stücken pulsiert, hat den behaglichen 50er-60er-Jahre-Muff vom Broadway gepustet. Das junge Publikum hatte sich schon längst nicht mehr für die glitzernden „Showtunes“ von Cole Porter und anderen Broadway-Heiligen interessiert.
Lloyd Webber greift die modernen Rock- und Pop-Strömungen auf und macht das Musical wieder Charts-tauglich und attraktiv, auch für den Unterhaltungsmarkt im deutschen Sprachraum.
Damit beginnt ein Kapitel Musicalgeschichte, das dem Genre nicht den besten Ruf einbringen wird.
Ein vertonter Gedichtzyklus von T.S. Elliot, zumindest auf Englisch: „Cats“
In Deutschland kranken Lloyd Webbers Stücke an der Übersetzung ...
Wenn man jetzt mal die Gedichte von T.S. Elliot, die Lloyd Webber in „Cats“ vertont hat, neben die deutschsprachige Übersetzung von Michael Kunze legt, dann ist das wie Himmel und Hölle.
„‚Allerdings‘ reimt Michael Kunze auf ‚Sphinx‘. Gut, das hat immerhin noch etwas mit Katzen zu tun – aber poetisch ...?“, fragt sich Musical-Experte Clarke. Mit so schrecklichen Texten, wie man sie hier hört, wäre Lloyd Webber in England und Amerika niemals so erfolgreich gewesen.
... aber vor allem an der Besetzung
Die deutschen Übersetzungen der Lloyd-Webber-Musicals sind aber nicht das größte Problem, sondern die Besetzungen. Vergleichbar ist das mit der „Traumschiff“-Reihe: Diese dürftigen Drehbuch-Zeilen funktionieren nur dann annähernd, wenn sie von gestandenen Schauspielgrößen vorgetragen werden.
Andrew Lloyd Webber hat seine Stücke in London oder New York mit hochkarätigen Charakterschauspielerinnen und -schauspielern besetzt: mit der Theatergröße Patti LuPone in „Cats“ oder der Hollywood-Ikone Glenn Close in „Sunset Boulevard“.
Schauspielerin Glenn Close in der Rolle der Norma Desmond aus „Sunset Boulevard“
Sind Lloyd Webbers Musicals nur platte Ausstattungsorgien?
Im deutschsprachigen Raum kommen Star-Besetzungen von ähnlichem Format kaum zustande. Mit der Lloyd-Webber-Welle, die Wien und Hamburg in den 1980er-Jahren erfasst hat, verhärtet sich vor allem ein Bild von Musical: eine Ausstattungsorgie, die ein abgerichtetes Ensemble allabendlich reproduziert und das Broadway-Vorbild imitiert, nicht aber etwas Eigenes kreiert.
„Mir scheint, dass die Deutschen die Schlager-Zugänglichkeit von Lloyd Webber mögen und ihn abgestempelt haben als einen Komponisten, bei dem dann die Katzen oder die Rollschuhfahrer vorbeisausen oder die Phantome von der Decke fallen mit einem Kronleuchter“, resümiert Kevin Clarke. „Und das ist natürlich eine sehr simplifizierte Version von dem, was Musical ist, und auch von dem, was Lloyd Webber geschaffen hat.“
Auch jetzt, wo Andrew Lloyd Webber seinen 75. Geburtstag feiert, ist er immer noch auf der Suche nach neuen Stoffen, und bringt mit „Bad Cinderella“ eine feministische und rockige Deutung des Märchen-Stoffs auf die Bühne. Ausruhen auf vergangenen Mega-Erfolgen, wäre langweilig.
Musical-Komponist Von singenden Katzen und swingenden Zügen: Andrew Lloyd Webber wird 75
„Das Phantom der Oper“, „Starlight Express“ oder „Evita”: Kaum ein Komponist hat so viele erfolgreiche Musicals auf die Bühne gebracht wie Sir Andrew Lloyd Webber. Seine opulenten Produktionen begeistern ein Massenpublikum, auch wenn sie musikalisch gerne als seichte Unterhaltung belächelt werden. Am 22. März feiert der Komponist seinen 75. Geburtstag.
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