Die französische Opéra comique des 18. Jahrhunderts kannte viele Facetten. Entstanden kurz nach 1700 als parodistische Gegengattung zur Tragédie lyrique, entwickelte sich die Vaudevillekomödie aufgrund einer stetigen Literarisierung zu einer ernstzunehmenden Konkurrentin der Comédie-Française. Den entscheidenden Schritt machte die Opéra comique jedoch in den 1750er Jahren, als sie sich unter dem Einfluss der italienischen Opera buffa zu einer eigenständigen musikdramatischen Gattung respektive Institution entwickelte. Der Erfolg der »nouveaux drames«, wie sie von der Kritik betitelt wurden, beruhte vor allem auf einer neuen Stofflichkeit – die Stücke spielten im bürgerlichen Milieu von Handwerkern oder Landleuten – sowie in einer Absage an jedwede Künstlichkeit, was sich nicht zuletzt auch in der Sprache konkretisierte. Die Musik war einem »natürlichen« Ton verpflichtet, der gesprochene Dialog in Prosa gehalten. Beides waren Garanten für eine außerfranzösische Rezeption, insofern als der Dialog leicht in eine andere Sprache übersetzt und auch die Musiknummern verhältnismäßig einfach adaptiert beziehungsweise aufgeführt werden konnten. Damit trat im europäischen Musiktheater eine neue Situation ein: Es gab nun musikdramatische Werke, die nicht länger eine elitäre Veranstaltung in einer Fremdsprache darstellten wie ehedem die Tragédie lyrique, sondern »moderne« Stücke, die unmittelbar verständlich und auch außerhalb des französischen Kulturraums rezipierbar waren. Besonders in der deutschen Theaterlandschaft mit seinen zahlreichen Wandertruppen fiel die Opéra comique auf fruchtbaren Boden. Und der Südwesten spielte dabei eine zentrale Rolle: Die ersten Übersetzungen der Opern von Duni, Monsigny, Philidor und Grétry kamen Anfang der 1770er Jahre in der Buchhandlung von Christian Friedrich Schwan in Mannheim unter dem Titel Komische Opern für die Churpfälzische deutsche Schaubühne heraus, gefolgt von der kurz darauf in Frankfurt verlegten Sammlung der komischen Operetten so wie sie von der Churpfälzischen Deutschen Hofschauspielergesellschaft unter der Direction des Herrn Marchand aufgeführet wurden (1772–74). Diese vierbändige Sammlung war beispielhaft, denn die Übersetzungen hielten sich sehr stark an die Originale und waren von größeren Eingriffen in die Werkgestalt weitgehend frei.
In diese Zeit zu Beginn der 1770er Jahre fiel ein Werk, das die Gattung Opéra comique nachhaltig prägen sollte: Zémire et Azor von André-Ernest-Modeste Grétry (Fontainebleau 1771), ein großer Wurf des am Anfang seiner musikdramatischen Karriere stehenden Komponisten aus Lüttich. Zémire et Azor, basierend auf einem Libretto von Jean-François Marmontel, war der erste durchschlagende Erfolg einer Opéra comique außerhalb Frankreichs, modern gesprochen ein internationaler Hit. Grétrys Oper wurde im 18. Jahrhundert zwischen Stockholm und Parma, Moskau und Madrid an allen wichtigen europäischen Opernstätten gespielt und sie fand selbst den Weg nach Übersee (1787 in New York und Philadelphia, 1791 in Havanna). Der Erfolg ist vergleichbar mit demjenigen von Glucks Orfeo ed Euridice oder Mozarts Zauberflöte. Mozart schätzte Grétrys Partitur im Übrigen so sehr, dass er große Teile davon eigenhändig kopierte. Auch in Mannheim erfreute sich Zémire et Azor großer Beliebtheit. Bereits ein halbes Jahr nach der Pariser Premiere gab die Theatertruppe von Theobald Marchand 1772 auf dem Mannheimer Marktplatz die Oper in deutscher Übersetzung. Allerdings war die sogenannte Komödienhütte auf dem Marktplatz alles andere als ein Platz höfischer Repräsentation: Der Kurfürst musste dorthin incognito gehen, wenn er seine theatrale Schaulust befriedigen wollte. Carl Theodor dürfte von der Aufführung gleichermaßen angetan gewesen sein wie der englische Musikhistoriker Charles Burney, für den Zemire und Azor den Beweis lieferte, dass Opern auch in deutscher Sprache »funktionieren«.

Hätte dem Kurfürsten Grétrys Oper missfallen, wäre es wohl kaum zu der denkwürdigen Produktion gekommen, die dann 1776 an der Mannheimer Hofoper stattfand, nämlich die Transformation dieser Opéra comique in eine »große« italienische Oper. Der Unterschied zu der Aufführungsserie von Marchands Truppe anno 1771 auf dem Marktplatz könnte kaum größer sein: Nicht nur wurde Grétrys Oper durch den Aufführungsort der Hofoper nobilitiert, was sich auch mit ungleich besseren Produktionsbedingungen verband, sondern mehr noch fand hier ein echter Gattungstransfer statt, indem eine Dialogoper in eine durchgängig musikalisierte Gestalt überführt wurde. Es gab im 18. Jahrhundert nicht viele Opern, die eine solche Transformation in ein italienisches Format erfuhren – interessanterweise betreffen die meisten Zémire et Azor: Regensburg 1775 und Mannheim 1776 eröffneten den Reigen mit einer italienischen Zemira, gefolgt von London und Nizza 1779, Esterhaza und Graz 1782, Mailand 1791 sowie Lissabon 1797. Mannheim nimmt innerhalb dieser Rezeptionskette eine Schlüsselstellung ein, weil die von dem Hofpoeten Mattia Verazi angefertigte Übersetzung auch außerhalb der Kurpfalz Verwendung fand. Die eigentlichen Gründe für die Anverwandlung dieser französischen Opéra comique in eine italienische Oper sind jedoch im Stück selbst zu suchen.
Zémire et Azor war keine gewöhnliche Opéra comique, sie unterscheidet sich in mehreren Punkten gravierend von anderen Stücken dieses Genres. Dies beginnt bereits bei der Gattungsbezeichnung: Marmontel hatte seinen Operntext als Comédie-ballet konzipiert, das heißt allein durch die Beteiligung des Balletts sowie die Vieraktigkeit war das Stück nicht mit einer normalen »comédie mêlée d’ariettes« kommensurabel. Desweiteren ist der gesprochene Dialog nicht wie bei den meisten Opéras comiques in Prosa, sondern in Versen abgefasst, was der Oper bereits einen deutlich »höheren« Ton verleiht. Der größte Unterschied besteht aber im Stofflichen: Bei Zémire et Azor handelt es sich um einen der ersten Vertreter des Genres der Zauber- beziehungsweise Märchenoper, die zusammen mit den historischen Stoffen einen Gegenpol zu den von der Alltagswelt geprägten Handlungen der Opéra comique darstellten.
Wer hat nicht erfahren, wie sehr seelisches Gleichgewicht uns dem Wunderbaren öffnet?
Für seinen Operntext hatte Marmontel auf die Erzählung »La belle et la bête« (Die Schöne und das Biest) von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont zurückgegriffen, die 1756 in der Sammlung Le magasin des enfants erschienen war. Diese »contes des fées« entbehrten indes ein Element, das für die Opéra comique entscheidend war, nämlich den Standeskonflikt. Typisch hingegen war das Thema Familie oder besser: Familienzusammenführung, welches auch die dramaturgische Triebfeder von Marmontels Zauberoper darstellt, ganz in der Linie von Diderots »comédie larmoyante«. Mit der Betonung des Zauberischen adaptiert Marmontel hingegen eine zentrale Kategorie der französischen Tragédie lyrique, nämlich das Wunderbare (»le merveilleux«) und rückt seinen Operntext damit in die Nähe der großen Oper. Auch der Schauplatz im fernen Persien mit seinem orientalisch-phantastischen Ambiente geht buchstäblich auf Distanz zur Alltagssphäre. Die weitgehend eindimensional angelegte Handlung steht derjenigen anderer Zauberopern wie beispielsweise La fée Urgèle (1765) von Egidio Duni nahe: Ein Mann mit schrecklichem Äußeren (Azor), der sich am Ende als verwunschener Prinz herausstellt, wird durch die Treue einer liebenden Frau (Zémire) von seinem Schicksal erlöst.
Die Reduktion des Komischen zugunsten des Wunderbaren, der Einsatz des Balletts und nicht zuletzt die höhere sprachliche Ebene machten Zémire et Azor also mehr als andere Opéras comiques einer Transformation in eine »große« Oper zugänglich. Diese stilistischen Akzentverschiebungen innerhalb der Gattung waren dem Hofdichter Mattia Verazi natürlich bewusst, als es darum ging, Grétrys Comédie-ballet für die Mannheimer Oper zu adaptieren. Dass ein solcher Gattungstransfer indes mit ganz spezifischen dramaturgischen und musikalischen Herausforderungen einhergeht, dürfte sich dem Dichter wahrscheinlich erst während der Arbeit erschlossen haben. Aus verschiedenen Dokumenten wissen wir, dass dieser Mannheimer Zemira e Azor, die am 7. Januar 1776 Premiere feierte, eine längere Vorbereitungszeit vorausging. Bereits im Sommer 1775 fanden sich Verazi und der Komponist Ignaz Holzbauer in Schwetzingen zusammen, um diese italienische Einrichtung zu bewerkstelligen, denn schließlich musste nicht nur das Libretto übersetzt, sondern auch neue Musik – Rezitative als Dialogersatz – komponiert werden. Diese Arbeit dauerte wohl deutlich länger als geplant und ging den Beteiligten offenbar auch nicht ganz so leicht von der Hand. Aus einem Schreiben Verazis an den Kurfürsten geht hervor, dass er mit Holzbauer »Tag und Nacht mit unermüdlicher Ausdauer« (»jour et nuit avec une perseverance infatigable et proportionnée«) an der Zemira arbeiten musste und sich seine Übersetzungstätigkeit als diffiziler und langwieriger herausstellte als angenommen. Die enge Zusammenarbeit mit Holzbauer zwang Verazi zu einer längeren Verweildauer in Schwetzingen – und dafür wollte er im Nachhinein mehr (Tage-)Geld. Das Bittschreiben Verazis ist deshalb so aufschlussreich, weil es offenbart, dass eine solche musikdramatische Adaption selbst für absolut erfahrene Librettisten keine alltägliche Arbeit darstellte.
Wie schon für die ersten deutschen Übersetzungen französischer Opéras comiques war auch für Verazi die Konservierung des Originals oberstes Gebot, was sich schon allein daran ablesen lässt, dass es in seiner »azione teatrale per musica« keine einzige Streichung einer Gesangsnummer von Grétry gibt. Auch bei seinen Rezitativtexten hielt sich Verazi sehr genau an den Wortlaut der Dialoge von Marmontel. Problematisch bei einer Überführung in ein italienisches Format waren die Aktschlüsse, wenn sie nicht mit einer Vokalnummer endeten. So schließt der erste Akt in der Zemira wie bei Grétry mit einer »Sinfonia«, äußerst ungewöhnlich für eine italienische Oper. Der dritte Akt wiederum endet bei Marmontel und Grétry im gesprochenen Dialog, was in der italienischen Version logischerweise ein Secco-Rezitativ nach sich gezogen hätte. Hier aber setzt Verazi, nicht zuletzt aufgrund der besonderen Situation dieser Schlüsselszene, auf ein längeres orchesterbegleitetes Rezitativ, dem sich ein kurzes Duett zwischen Zemira und Azor am Aktende anschließt. Mit Ausnahme dieses musikalischen Addendums geht Verazis Zemira-Textbuch ansonsten völlig konform mit Grétrys Original. Angesichts der Bearbeitungspraxis, wie sie beispielsweise in Wien oder London herrschte, wo man mitunter die Originale kaum wiedererkannte, ist diese Werktreue äußerst bemerkenswert.
Gleichwohl blieben Verazi und Holzbauer die Probleme, die mit dieser strukturellen Nähe zur originalen Opéra comique verbunden waren, nicht verborgen. Denn Verazi sah sich veranlasst, eine weitere (zweite) Fassung seiner Zemira-Einrichtung zu verfassen, welche der musikalischen Balance einer italienischen Oper (»economia del teatro musicale Italiano«) stärker Rechnung trägt. In dieser Fassung kommt es nun zu Streichungen, mehr aber noch zur Einbettung von insgesamt vier Einlagen, also Fremdkompositionen, die vor allem den Aktschlüssen mehr Gewicht verleihen sollten. Diese Einlagenummern stammen allesamt aus Stuttgarter Opern von Niccolò Jommelli. Mit diesen Arien wirkte Verazi gleichzeitig der Disbalance innerhalb der Arienverteilung entgegen, denn in Grétrys französischer Originalversion hatte nur die Protagonistin Soloarien – für eine italienische Oper ein »no-go«. Neben der prima donna mussten auch die seconde donne stärker am musikalischen Geschehen beteiligt werden, nicht zuletzt wirkte hier an der Mannheimer Hofoper ein hochkarätiges Vokalensemble: Franziska Danzi (Zemira), Barbara Strasser (Fatima) sowie Magdalena Heroux (Lesbia); bei den Männern Francesco Roncaglio (Azor), Giovanni Battista Zonca (Sandro) und Franz Hartig (Ali). Es ist nicht klar auszumachen, wann diese zweite Fassung der Zemira gespielt wurde, sehr wahrscheinlich am 30. Juni 1776 in Schwetzingen, kurz bevor es im Juli mit La festa della rosa zur nächsten Grétry-Adaption im Theater der kurpfälzischen Sommerresidenz kam. An Grétry führte im europäischen Musiktheater der 1770er Jahre kein Weg vorbei, auch nicht in der italienischen Oper.
Zwischen Komödie und Drama. Das künstlerische Team im Gespräch