Christian Poltéra (Foto: Irène Zandel)

Ein Besuch bei Residenzkünstler Christian Poltéra in Zürich

Zentralgestirn Kammermusik

Stand

»Ich war kein Cello mehr, kein Instrument, keine Mara mehr, sondern nur noch ein Haufen Kleinholz, schmutzig, verdreckt, durch und durch triefend.« Im Juli 1963 war das Violoncello, das hier zu uns spricht, in einem Fährunglück auf dem Rio de la Plata über Bord gegangen. Nicht irgendein Cello, sondern The Mara von Antonio Stradivari, nach seinem ersten Besitzer, Giovanni Mara, benannt. Das in seinem Kasten wundersam an Land gespülte Instrument wurde in die Klinik eines Londoner Instrumental-Chirurgen überführt und nach neun Monaten als geheilt entlassen. Seither sind Name und Wert des Instruments weiter ins Sagenhafte gestiegen. Nicht zuletzt dank der fiktionalen Autobiographie Mara von Wolf Wondratschek, die im Erscheinungsjahr 2003 keineswegs abgeschlossen war, aber mit einer nicht zu toppenden Pointe über den neuesten Interpreten, einen österreichischen Cellovirtuosen schließt: »Wie er heißt, mein Österreicher? Lachen Sie nicht. Schiff. Ja, wirklich. Schiff, Heinrich Schiff, und das mir, bei meiner Vergangenheit. Das hat mir noch gefehlt.« Aber auch das ist mittlerweile Vergangenheit, denn heute hat Mara seinen Wohnsitz in der Schweiz, und der glückliche Spieler heißt Christian Poltéra.

Als einer der eindrucksvollsten Cellisten seiner Generation steht bei Poltéras Spiel allein die Musik im Vordergrund: Ohne große Gesten zeigt er das Essenzielle eines Werkes. Dabei ist seine ganz individuelle Klangfarbe prägend für seine Interpretationen, die er epochen- und stilspezifisch meisterlich anzupassen weiß.

Ein solches Instrument zur Verfügung zu haben, sei schon Luxus, konstatiert Poltéra in unserem Gespräch in Zürich. Wir sitzen in einem ländlichen Wohngebiet auf der Terrasse seines kürzlich erworbenen Hauses: von einer Pianistin, die ihr Anwesen samt eigenem Probestudio im weitflächigen Garten nur an Musiker verkaufen wollte – ein Künstlerparadies für ihn, seine Frau, die Geigerin Esther Hoppe, die ebenfalls ein Instrument von Stradivari spielt, und ihre Kammermusikpartner, vor allem den holländischen Pianisten Ronald Brautigam. Natürlich hat Poltéra auch ein eigenes Violoncello, eines des wenig bekannten Instrumentenbauers aus Modena, Antonio Casini, das bis 1980 noch als ein Instrument von Andrea Guarneri gehandelt wurde – da sei viel »geschummelt« worden, vor allem mit falschen Zetteln im Corpus, erzählt Poltéra. Vergleichen ließen sich die beiden Celli nicht, zu grundverschieden seien sie im Klang: das Casini dunkel und erdig, das Stradivari klar und hell. Mara – nur drei Celli von Stradivari sind wohl erhalten – spiele in einer »eigenen Liga«. Dass Mara trotz Schiffbruch seine klangliche Identität behalten hat, fasziniert Poltéra nach wie vor: Man erkenne es sofort, unabhängig vom Interpreten, an seiner Schwerelosigkeit: »unaufdringlich, aber sehr präsent« sei sein Klang, zudem im Raum nicht lokalisierbar – er hat es mehrfach ausprobiert und erklärt es jetzt zu Maras Haupteigenschaft.            

Beide Instrumente könnten mit Darm- oder Stahlsaiten gespielt werden. Darmsaiten auf dem Stradivari-Cello verwendet Poltéra für Projekte mit Hammerflügel, in langjähriger Kammermusikpraxis mit Brautigam, einem ähnlichen Repertoire-Allrounder wie Poltéra selbst und dabei ein Einzelgänger in der Pianistenzunft. Kennengelernt hatten sich beide über die Cellosonaten von Beethoven, 2017 erschien dann ihre Aufnahme mit den Cellowerken von Mendelssohn und geplant ist nun eine Aufnahme der Brahms-Sonaten – für Poltéra ein Herzensprojekt. Gerade in der e-Moll-Sonate, die den ersten Abend seiner Konzertreihe in Schwetzingen beschließen wird, sei Brautigam »einen Tick flüssiger«. Oft werde diese Sonate »klebrig, triefend« aufgeführt – da verliere sich Brautigam nie in Details, behalte eine »unheimliche Übersicht« und sorge für Transparenz. Außerdem sei die Balance zwischen Cello und einem älteren Klavier wesentlich einfacher als bei einem modernen Steinway-Flügel. Und Brahms an sich: »gewaltig, was man da als Cellist für Aufgaben hat.« Aber das lerne man erst mit der Zeit. Jedes Kind versuche sich an der e-Moll-Sonate, das könne einem die Musik schon verderben. Erst nach dreißig Jahren könne man sie wieder anders hören und dann feststellen: »Das ist ja wirklich das Tollste!« Die Kammermusik von Brahms bedeutet Poltéra einen Trost dafür, dass dieser kein Solokonzert, »nur« ein Doppelkonzert für Violine und Violoncello komponiert hat – »ungeheuer dankbar« ist er ihm. Jüngst hat er Haydns zwei Cellokonzerte eingespielt, zusammen mit dem Münchner Kammerorchester ohne Dirigenten, dafür mit eigenem Aufführungsmaterial. Langsam arbeite er sich in den »Mainstream« vor, erzählt er. Mit Mitte zwanzig hätte er kein Bedürfnis verspürt, gerade Haydn aufzunehmen – wozu? Da konzentrierte er sich auf Raritäten, vor allem des 20. Jahrhunderts. Aber mit der Erfahrung von heute, auch durch seine Dozentur an der Luzerner Musikhochschule – »immer nur das D-Dur-Konzert!« – vertiefte er sich in Haydns Partituren und stieß auf sehr viele offene Fragen bei Dynamik, Artikulation und Phrasierung: »Wenn man sich da individuell Gedanken macht, kommt zwangsläufig eine neue Interpretation heraus.« Austausch und Arbeit mit dem Münchner Kammerorchester – »Entscheidungen müssen getroffen werden« – bereiteten ihm ein kammermusikalisches Vergnügen. Und Kammermusik ist das Zentralgestirn in Poltéras Künstlertätigkeit. Manifestiert in seiner Position im Streichtrio von Frank Peter Zimmermann (der Bratscher Antoine Tamestit in der Mitte), in den vielen Gastauftritten bei Streichquartetten und als künstlerischer Leiter eines kleinen, aber feinen Festivals in der Bergkirche Büsingen am Hochrhein mit etwa zweihundert Plätzen – für ihn ein »Kraftort«. Hier, so betont Poltéra, ist Musik noch die Hauptsache: »Wir haben das interessierte Publikum, nicht das interessante.«

Über Kammermusik hat Poltéra auch langsam, aber stetig Karriere gemacht. Er hat an keinem Wettbewerb teilgenommen – erst als Juror. Er bewundert die Fähigkeiten und auch die Unbefangenheit der jungen Wettbewerbsteilnehmer, aber es interessiert ihn doch, wie es einmal klingen wird, wenn die Preisträger dreißig sind. Heute gäbe es zu viele Wettbewerbe, deren Absolventen vom Markt gar nicht mehr absorbiert werden könnten, schätzt Poltéra die derzeitige Lage ein, obwohl er nicht nur pessimistisch in die nähere Zukunft blickt. Durchschnittliches Niveau und technische Fertigkeiten seien jedenfalls enorm gestiegen und hinsichtlich der oft beklagten leeren Konzertsäle nach der Pandemie verweist Poltéra auf sehr unterschiedliche Erfahrungen. Es komme darauf an, wie Kultur- oder Konzertveranstaltungen vermittelt würden: »Bei Veranstaltern, die mit Herzblut dabei sind, läuft es erstaunlich gut,« vermeldet er. Es gäbe ein echtes Bedürfnis und auch einen Nachholbedarf beim Publikum, selbst wenn sich ein Teil daran gewöhnt habe, »dass es auch ohne Kultur geht.«

Poltéra entlockt seinem Instrument Klangfarben, die unter die Haut gehen: Mal sind es Basstöne, vibrierend und rau wie die alle Höhen und Tiefen des Lebens bergende Stimme eines sehr alten Bluessängers, mal wird das Cello zum lyrischen Tenor mit weichem Timbre.

Als Jugendlicher war Mstislaw Rostropowitsch sein Ideal. Sein großer, warmer Ton – »ohne den Klang zu zerdrücken« – machte ihm Gänsehaut. Dazu seine enorme Repertoire-Erweiterung – »ohne Rostropowitsch kein Prokofjew, Schostakowitsch, Lutosławski, Britten, Dutilleux« – sowie seine technischen Errungenschaften. Pablo Casals habe Vierteltöne noch für unspielbar gehalten – Rostropowitsch habe sie dann bestellt. Zwei Mal hörte er ihn live, einmal nahm er an einer öffentlichen Meisterklasse teil, aber o weh! Poltéra hatte die falsche Wahl getroffen, das kühne Duo für Violine und Violoncello von Ravel. Denn zur großen Überraschung aller Teilnehmer kannte Rostropowitsch das Stück nicht. Freute sich aber, dass er es zu hören bekam. Was Poltéra ihm bis heute dankt: dass er ihm völlig die Angst nahm, vor falschen Tönen, sogar davor, überhaupt einen Ton zu spielen. Stilistisch könne man heute vieles anders machen als Rostropowitsch, weiß Poltéra, und gelernt hat er dies vor allem bei Heinrich Schiff. Sechs Jahre hat er bei ihm studiert, auch er »einmalig in seiner Intensität«, dazu »rhetorisch brillant« und durch seine Kontakte mit Nikolaus Harnoncourt »seiner Zeit voraus«. Kein Cello-Lehrer habe mehr in die junge Generation investiert als Schiff, »Kette rauchend, mit hohem Blutdruck, den ganzen Tag Espresso trinkend.« Schiff bezeichnet Poltéra heute als »stilistisches Ideal«, weil er seinen Studenten beibrachte, den Notentext genau anzuschauen – nicht darauf zu achten, wie andere spielen.

Aus einem Aufsatz von Lotte Thaler

Konzerttermine

Kammermusik Christian Poltéra & Ronald Brautigam

Christian Poltéra & Ronald Brautigam

Kammermusik Christian Poltéra & Freunde

Christian Poltéra & Freunde

Lesung mit Musik | Wondratschek & Poltéra Mara - Ein Cello erzählt

Mara - Ein Cello erzählt

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SWR