Buch-Tipp

Reinhard Goebel: „Johann Sebastian Bachs Brandenburgische Konzerte“

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AUTOR/IN
Jan Ritterstaedt

Mit seinem Ensemble Musica Antiqua Köln hat er seit den 1970er Jahren für jede Menge Furore gesorgt: der Geiger und Dirigent Reinhard Goebel. Er ist einer der Pioniere der historisch informierten Aufführungspraxis in Deutschland. Seit 2010 lehrt er dieses Fach als Professor am Mozarteum in Salzburg und arbeitet als Dirigent für mehrere Ensembles. Vor allem die Musik Johann Sebastian Bachs hat ihn schon von Beginn seiner Karriere an fasziniert. Jetzt hat er ein Buch über die Brandenburgischen Konzerte Bachs geschrieben.

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Persönliche Deutungen mit musikwissenschaftlichem Vokabular

Reinhard Goebel interpretiert die sechs Brandenburgischen Konzerte als einen Zyklus, in dem fürstliche Attribute und Tugenden dargestellt werden. Bach hat die Werke seinem Dienstherrn Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt gewidmet, daher auch der Name der Konzerte. Dabei ist jedes Werk anders konzipiert und instrumentiert.

Im zweiten Brandenburgischen Konzert sieht Reinhard Goebel Ruhm und Ehre verkörpert, diese programmatische Deutung belegt er mit historischen Zitaten. Außerdem bezieht er den historischen Kontext der Konzerte mit ein. So spricht er etwa über den Stand der Trompeterzunft im 18. Jahrhundert und welche Rolle sie in der höfischen Repräsentation spielen. Einige Seiten später dann eine kurze Beschreibung vom Ablauf des ersten Satzes des Konzerts. An dieser Stelle hagelt es dann musikwissenschaftliches Fach-Vokabular, zusammen mit passendem Notenbeispiel.

„Der erste große Formteil ist mit der C-Dur-Kadenz in Takt 28 abgeschlossen; es folgt viel Klangspielerei bis zur nächsten Kadenz (B-Dur in Takt 59) im Quintfall über d – G – C – F in eine Confutatio mit völlig neuen Klangvaleurs wie staccato, tempo rubato, Bogen- und Zwerchfellvibrato“

Seitenhiebe mit spitzer Feder

Reinhard Goebel analysiert die Musik aus der Perspektive der eigenen Musikpraxis heraus. Immer wieder kommt der Alte-Musik-Spezialist auf seine Erkenntnisse der historisch informierten Aufführungspraxis zu sprechen.

Gerne schreibt er dabei mit spitzer Feder, sogar in den Erläuterungstexten zu den Faksimiles einiger Partiturseiten von Bachs Autograf kann er sich den einen oder anderen Seitenhieb nicht verkneifen.

Dass die gleiche Figur in einem anderen Satzzusammenhang anders artikuliert wird, tut nichts zur Sache: es ist halt ein anderer Satz. Gewarnt aber wird vor der unter Pseudo-Konässören so beliebten „zwei gebundenen, zwei gestoßenen“-Artikulation. Sie gehört eindeutig in die spät-galante Zeit 1750 bis 1780. Bach hat sie nie - Klammer auf, Fragezeichen, Klammer zu - angewendet.“

Eigenwillige Begriffe

Wer diese „Pseudo-Konässöre“ sind, wissen wahrscheinlich nur der Autor und sie selbst. Gerne benutzt Reinhard Goebel Worte, die er aus dem Französischen oder Lateinischen entlehnt. Manchmal frage ich mich, ob er mir damit auf die Gepflogenheiten der Zeit des frühen 18. Jahrhunderts aufmerksam machen möchte. Beim Lesen jedenfalls stolpere ich immer wieder über solche recht eigenwilligen Begriffe. Aber Goebel kommt auch immer wieder schnell auf die Musik selbst zurück.

Alle Brandenburgischen Konzerte von Reinhard Goebel erklärt

Historische Aufführungspraxis Musik durch die Brille der historischen Aufführungspraxis mit Reinhard Goebel

Reinhard Goebel ist Geiger, Dirigent und leidenschaftliche Anhänger einer historisch informierten Aufführungspraxis. Für SWR2 teilt der weltweit gefragte Spezialist sein Wissen auch mit allen neugierigen Hörer*innen und Musikliebhaber*innen: Mit ganz viel Charme und Witz.

Bach-Experte

Im fünften Brandenburgischen Konzert sieht Reinhard Goebel das fürstliche Recht Kriege zu führen thematisiert. Als Beleg dient ihm hier die aufsteigende Fanfare des Orchestertuttis gleich zu Beginn. Und tatsächlich kann er diese Figur auch in anderen musikalischen Werken der Barockzeit nachweisen.

Goebel beschäftigt sich seit vielen Jahrzehnten schon intensiv mit den Chiffren und Begriffen der Lehre von der musikalischen Rhetorik. In diesem Sinne interpretiert er etwa den Kopfsatz des fünften Konzerts und weist auf die gesellschaftliche Funktion der Musik hin.

Immer bleibt aber klar, dass die öffentliche musikalische Rede, ganz besonders natürlich die Anrede eines Fürsten, nach allen Regeln der Kunst keine „rein musikalischen“ Funktionsteile enthalten kann: der Komponist ist ja nicht chez soi-même im eigenen Wohnzimmer und fantasiert ein wenig auf dem Silbermann’schen Claviere vor sich hin, sondern er steht im Lichte der Öffentlichkeit [...]“

Bach gibt auch Rätsel auf

Beim letzten der sechs Brandenburgischen Konzerte mit seinen Violen und Gamben fällt Reinhard Goebel die programmatische Deutung deutlich schwerer. Ist das Werk eine Hommage an die damals schon altmodischen Instrumente der Viola-da-gamba-Familie? Oder spiegeln der dunkle Klang und die dichte Textur so etwas wie eine Sphäre von Tod und Apotheose des Fürsten wider? Der Autor mag sich in diesem Fall nicht so recht entscheiden.

Jan Ritterstaedts Fazit

Reinhard Goebels programmatische Interpretation des Konzertzyklus der Brandenburgischen Konzerte hat ihren Reiz. Allerdings stößt sie auch an ihre Grenzen. Mir gefällt vor allem sein Ansatz, die Werke aus dem Kontext ihrer Entstehungszeit, der Widmung und der zeitgenössischen Musizierpraxis heraus zu verstehen.

Für meinen Geschmack kommt allerdings die stilistische Einordnung der Werke etwas zu kurz. Rundum aber ein sehr anregendes und individuelles Buch über Bachs geniale Konzerte. Dazu ein nachdrückliches Plädoyer für die Grundlagen der historisch informierten Aufführungspraxis. Für 39,80€ ist das Buch mit seinen 128 Seiten und der Doppel-CD beim Verlag Dohr zu haben.

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Jan Ritterstaedt