Jessye Norman - Autobiographie der weltbekannten Sopranistin

Erhellend, aber auch ernüchternd

Stand
AUTOR/IN
Jürgen Liebing

Buchkritik vom 22.7.2015

Am 24. Juli 2015 erscheinen im Verlag dtv die Erinnerungen der Sopranistin Jessye Norman, die am 15. September ihren 70. Geburtstag feiern wird. Jürgen Liebing, bekennender Norman-Fan, hat die Autobiographie gelesen.

Wenn es denn schon ein amerikanischer Titel sein muss, warum hat der Verlag dann nicht den Originaltitel gewählt? „Stand Up Straight and Sing!“ Das sagte die Mutter von Jessye Norman zu dem Kind: „Stehe aufrecht und singe!“ Das entspricht viel mehr dem Lebensmotto der großen Sängerin als das leicht kitschige „I Sing the Music of My Heart“.

Das Buch beginnt mit der Schilderung einer Szene beim ARD-Wettbewerb 1968, in der deutlich wird, wie eine Afroamerikanerin, die letztendlich den Wettbewerb gewinnen sollte, von der Jury anfänglich schikaniert wird, und es endet mit der Verleihung der Spingarn Medal des NAACP, des Nationalen Bundes für die Förderung farbiger Menschen. Genau in der Mitte ein großes Kapitel, überschrieben „Rassismus, wie er leibt und lebt“ sowie als Zwischenspiel ein warmherziges Porträt der Sängerin Marian Anderson, die noch mehr unter der Rassentrennung hatte leiden müssen, weil sie bereits 1897 geboren wurde. Auch zu Zeiten des ersten afroamerikanischen Präsidenten – die täglichen Meldungen machen es immer wieder deutlich – ist Rassismus ein Thema. Und Jessye Norman weiß von beschämenden Beispielen zu berichten. Sie singt nicht nur mit dem Herzen, sie kämpft mit Verstand und Engagement für die Gleichberechtigung – als Afroamerikanerin und als Frau. Einen großen Raum in dieser Biographie nehmen ihre Eltern und Großeltern ein, besonders die Frauen: „Der starke Geist der Frauen in meiner Familie inspiriert mich.“

Ja, Jessye Norman ist auch ein gläubiger Mensch, Spiritualität ist ihr wichtig. Als kleines Kind glaubt sie an die Wiedergeburt, und in ihrem nächsten Leben möchte sie als Baum in diese Welt zurückkehren. Vielleicht ist das noch heute ihre Vorstellung?

Natürlich spielt auch die Musik eine große Rolle in diesem Buch, denn als eine der großen Sängerinnen der letzten Jahrzehnte schätzt man sie in der ganzen Welt. Was der geneigte Leser da erfährt, ist einerseits erhellend, aber auch ernüchternd; denn man erfährt, dass Singen Arbeit ist, harte Arbeit, dass es Disziplin erfordert und auch Entsagungen mit sich bringt. Jessye Norman erklärt, wie wichtig ihr die Proben sind, wie man allmählich die Stimme entwickelt, um sie nicht zu ruinieren, und wie sie sich auf eine neue Rolle vorbereitet. So hat sie beispielsweise, als sie Schönbergs „Erwartung“ einstudierte, im Arnold Schoenberg Institute der University of South Carolina den Briefwechsel zwischen dem Komponisten und der Librettistin Marie Pappenheim gelesen. Sie beschreibt, wie sie mit dem Komponisten Michael Tippett dessen Oratorium „A Child of Our Time“ erarbeitete oder mit Olivier Messiaen den Liederzyklus „Poèmes pour Mi“.

„Erwachsen werden in Deutschland“ ist ein Kapitel überschrieben, das mit der Feststellung beginnt: „Ich sage oft, ich sei in Berlin erwachsen geworden. Dort habe ich gemerkt, dass die Welt aus so viel mehr besteht, als ich mir vorgestellt oder gelernt hatte.“ Es war noch das geteilte Berlin, in das Jessye Norman kam, um ihr erstes Engagement an der Deutschen Oper in Westberlin anzutreten. Sie reist aber oft auch in den Ostteil der Stadt, bezeichnet ihn als einen „großen Teil meiner Welt-Universität“. Viele Jahre später, gerade nachdem die Mauer gefallen ist, nimmt sie in Dresden Beethovens Oper „Fidelio“ auf.

Natürlich gibt es auch Anekdoten aus ihrer langen Karriere, ihr Auftritt bei der 200-Jahr-Feier der Französischen Revolution, wo sie, in die Farben der Trikolore gewandet, die „Marseillaise“ auf dem Place de la Concorde vortrug, oder wie sie bei der zweiten Vereidigung von Ronald Reagan sang. Sie hatte zugesagt, weil sie eigentlich mit dem Sieg des demokratischen Kandidaten gerechnet hatte.

Wenn man ihr Buch liest, hört man die Autorin. Typisch das amerikanische Pathos von „I have a dream“ oder „Yes, we can“. Manchmal scheint es ein wenig übertrieben, aber sie meint es ernst, und wenn sie von Dankbarkeit spricht, glaubt man es ihr.

Als ich die Rezension dieses Buches annahm und mir gesagt wurde, anschließend könne noch zwei Minuten Musik gespielt werden, da war mir sofort klar, welches Lied es sein sollte. Jessye Norman sang es am Schluss eines Abends im Berliner Konzerthaus. Die Mauer stand noch, und der Besucher aus West-Berlin ging anschließend durch die dunkle Stadt zum Grenzübergang und hatte genau das Gefühl, das Jessye Norman immer wieder entgegengebracht wurde nach einem Konzert: „Ich weiß, dass Sie dieses Lied heute speziell für mich gesungen haben. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass Sie mich direkt anschauten.“ Als ich das Buch in Händen hielt, in das die Autorin immer wieder Gospel-Texte und andere Lieder einstreut, rundete sich quasi der Kreis, denn das Buch endet mit dem Text des Liedes: „Zueignung“ von Richard Strauss.

Buchkritik vom 22.7.2015 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

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Jürgen Liebing