Musikstück der Woche

Nicholas Angelich spielt Rachmaninows Études-tableaux

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AUTOR/IN
Doris Blaich

„Sergej Rachmaninow“, so schrieb ein Zeitgenosse, „war geschaffen aus Stahl und Gold: Stahl in seinen Armen, Gold in seinem Herzen“. Diese Legierung der Extreme findet sich auch in den Études-tableaux für Klavier. Nicholas Angelich spielt live in einem Bruchsaler Schlosskonzert des SWR.

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Gold und Zickzack

Gold hielt Sergej Rachmaninow auch in seinen Händen – zum Abschluss seiner Ausbildung. Das Moskauer Konservatorium zeichnete ihn 1892 mit der Großen Goldmedaille für Klavier und Komposition aus und man prophezeite ihm auf beiden Gebieten eine große Karriere. Die entwickelte sich dann auch gut, aber – wie in vielen Künstlerbiographien – mit einigen Zickzack-Wendungen und Einbrüchen:

So geriet Rachmaninow durch den Misserfolg seiner 1. Sinfonie in eine tiefe seelische Krise. Und ebenso verstörend und lähmend wirkte die russische Oktoberrevolution auf ihn. Über Paris floh er 1917 in die USA und wirkte dort zehn Jahre lang ausschließlich als Pianist und Dirigent, bevor er wieder den Kompositionsstift in die Hand nehmen konnte. Seine geliebte russische Heimat sah er nicht wieder.

Die neun Études-tableaux op. 39 entstanden unmittelbar vor Rachmaninows Flucht. Es sind die letzten Werke, die er noch in Russland schrieb. Die Bezeichnung Études-tableaux (Bilder-Etüden) stammt von Rachmaninow selbst. Sie steht für eine Mischung aus virtuoser Konzertetüde und bildhafter Tondichtung.

Etüden-Bilder mit morbiden Anklängen

Zunächst hat Rachmaninow keine konkreten Untertitel oder programmatische Hinweise für diese Stücke geliefert. Doch einige Jahre nach ihrer Entstehung bearbeitete der italienische Komponist Ottorino Respighi eine Auswahl der Études-tableaux für großes Orchester. Rachmaninow wandte sich in einem Brief an Respighi:

„Die erste Etüde in a-Moll [Nr. 2] stellt die See und Seemöwen dar. Die zweite a-Moll-Etüde [Nr. 6] wurde durch die Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf inspiriert. Die Etüde D-Dur [Nr. 9] ist einem orientalischen Marsch ähnlich“.

In allen Etüden klingt das „Dies Irae“ des Requiems durch: die gregorianische Melodie der lateinischen Totenmesse, in deren Text es um die Qualen und Ängste des Jüngsten Gerichts geht. Teilweise ist die Dies Irae-Melodie im Klaviersatz verborgen, an manchen Stellen klingt sie jedoch unmaskiert hindurch.

Treffpunkt der Extreme

Stahl und Gold: diese Legierung der Extreme trifft auch für Rachmaninows Tonsprache in den Études-tableaux zu: sie ist nie lauwarm, sondern immer entweder siedend heiß oder eisig kalt – extrem emotional eben (und darum in ihrer Wirkung oft polarisierend: Was die einen als aufwühlend und berührend-schön empfinden, ist für die anderen leeres Virtuosengeklingel oder gar Kitsch).

Rachmaninows Antwort auf die Frage „Was ist Musik?“ könnte (obwohl Jahre später formuliert) in ihrer poetischen Bildersprache auch ein direkter Kommentar zu diesen Klavierstücken sein:

Was ist Musik?! Eine ruhige Mondnacht; Das Rauschen der Blätter; Entferntes Abendläuten; Das, was von Herz zu Herz geht; Die Liebe; Die Schwester der Musik ist die Poesie – ihre Mutter: die Schwermut!

Musikstück der Woche Sergej Rachmaninow: Klaviertrio Nr. 1 g-Moll „Trio élégiaque“

Rachmaninow stand, als er sein Trio élégiaque schrieb, nach erfolgreichem Klavierexamen kurz vor seiner Kompositionsprüfung. Hinter dem französischen Titel „élégiaque“ verbirgt sich Elegie. Somit ist jeder Ton und jeder Klang ein Lied der Klage.

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