Musikstück der Woche 29.11.-5.12.2010

Bootsfahrt mit Rachmaninow

Stand
AUTOR/IN
Doris Blaich

Barcarole g-Moll op. 10 Nr. 3 und Étude-tableau D-Dur op. 39 Nr. 9

Mit Kraft, aber trotzdem gefühlvoll und mit der richtigen Balance aus Ernst und Leidenschaft muss man Rachmaninow spielen! Dem Pianisten Bernd Glemser gelingt diese Quadratur des Kreises. Unser Musikstück der Woche ist ein Live-Mitschnitt aus der Konzertreihe "Internationale Pianisten in Mainz" vom Dezember 2008.

"Rachmaninow", so schrieb der Pianist Arthur Rubinstein, "war ein Pianist nach meinem Herzen. Spielte er seine eigenen Kompositionen, so war er unübertrefflich ... Er besaß das Geheimnis des goldenen lebendigen Tones, der aus dem Herzen kommt und unnachahmlich ist. Meiner Meinung nach war er als Pianist bedeutender denn als Komponist."

Als Pianist hat Rachmaninow einen neuen Künstler-Typ geprägt: den Musiker, der jeder technischen Schwierigkeit gewachsen ist, dessen Spiel sich durch unsentimentale Sachlichkeit auszeichnet, mit großem Ton auf großen Flügeln, in großen Sälen und vor großem Publikum. Seine Kompositionen müssen sich immer wieder gegenüber dem Vorurteil behaupten, rückwärtsgewandt-kitschig, melodienselig und in der Gefühlswelt von Hollywoods Schmachtfilmen verankert zu sein. Rachmaninow schrieb nach seiner Emigration in die USA mit großem Erfolg Filmmusiken. Manche seiner Stücke bewegen sich tatsächlich an der Grenze zum Sentimentalen. Doch er hat längst nicht nur geschmeidige Ohrenschmeichler geschrieben, sondern auch viel Schroffes, Abgründiges und Kompromissloses.

Achtung, der Gondoliere leidet mitunter an Depressionen!

Rachmaninows Barcarole g-Moll stammt aus seiner Sammlung "7 Morceaux de Salon" op. 10 (komponiert 1893/94). Und aufgrund des Titels könnte man meinen, es handle sich dabei um Salonmusik, die sich im Hintergrund herunterklimpern ließe. Das Gegenteil ist der Fall. Wie so oft, hat Rachmaninow keinerlei Zugeständnisse an die technischen Fähigkeiten des Interpreten gemacht. Die Barcarole verlangt höchste Präzision. Für die rechte Hand schreibt Rachmaninow eine rhythmische Bewegung, die wie ein Perpetuum mobile das gesamte Stück durchläuft - zunächst in Triolen, dann in rasend schnellen Sechzehntel-Noten. Sie wollen mit äußerster Exaktheit gespielt werden, ohne dabei jedoch maschinenhaft zu wirken. Barcarole kommt vom italienischen "barca" (Boot, Barke) und bedeutet soviel wie Gondellied. Rachmaninows Gondoliere ist allerdings kein gutgelaunter Lebemann; er strahlt eine düstere Melancholie aus, die sich lediglich im Mittelteil des Stücks aufzuhellen scheint, wenn die Musik das Glitzern und Funkeln der Wasseroberfläche nachahmt.

Bild-Etüden

Mit den neun Études-tableaux (Bild-Etüden) op. 39 nahm Rachmaninow 1917 Abschied von seiner russischen Heimat. Die Oktoberrevolution hatte ihn zutiefst verstört. Er floh in die USA und wirkte 10 Jahre lang ausschließlich als Pianist und Dirigent, bevor er wieder den Stift in die Hand nehmen konnte.

Einige der Études-tableaux sind von Bildern oder Geschichten angeregt: Einen Trauermarsch, eine Möwe am Meer, "Rotkäppchen und der Wolf" und Arnold Böcklins Gemälde "Die Toteninsel" nannte Rachmaninow als Inspirationsquellen. Die Etüde D-Dur ist das Schlusslicht der Sammlung. Rachmaninow hat sie nicht mit einer Beschreibung versehen. Sie ist ein rhythmusbetonter Marsch, der zwischen kraftvoller Grimmigkeit und Ausgelassenheit changiert. Der Komponist Ottorino Respighi hat fünf von Rachmaninows Études-tableaux für großes Orchester bearbeitet; darunter auch op. 39 Nr. 9, die er mit viel instrumentalem Tschinderassa-Bumm und mit dem Titel "Marche orientale" versah.

Bernd Glemser

Der Pianist Bernd Glemser (Foto: Website Agentur Music Masters Management  - Olli Rust)
Bernd Glemser

Bernd Glemser war selbst noch Student an der Freiburger Musikhochschule, als er 1989 zum damals jüngsten Klavierprofessor Deutschlands berufen wurde – dafür musste er sich aber erst einmal exmatrikulieren. Zuvor hatte er bei Klavierwettbewerben auf der ganzen Welt Erfolge gefeiert und 17 Wettbewerbe in Folge gewonnen, darunter den Busoni-, den Tschaikowsky- und den ARD-Musikwettbewerb. Von den Preisgeldern konnte er sich seinen ersten Flügeln kaufen.
Mittlerweile konzertiert Bernd Glemser in aller Welt. 1996 war er der erste Künstler aus dem Westen, der live im chinesischen Fernsehen spielte. Seine bisher 30 CD-Aufnahmen erhielten fast ausnahmslos Auszeichnungen von der Fachpresse. Dazu gesellen sich viele weitere Auszeichnungen, wie der Europäische Pianisten-Preis, den Bernd Glemser 1993 in Zürich erhielt, der Kunstpreis der Stadt Würzburg (2006) und das Bundesverdienstkreuz (2003).
Übrigens stammt Bernd Glemser aus dem Sendegebiet des SWR: von der Schwäbischen Alb. Als Junge ist er oft mit den Skiern zum Klavierüben gefahren …

Stand
AUTOR/IN
Doris Blaich