Musikstück der Woche vom 24.5. bis 31.5.2010

Eine Welt für sich in 256 Takten

Stand
AUTOR/IN
Kerstin Unseld

Johann Sebastian Bachs Chaconne ist für Geiger das Maß aller Dinge. Mit diesem Satz aus Bachs zweiter Solopartita beweisen sich die Meisterinnen und Meister ihres Fachs.

Arabella Steinbacher spielte die berühmte Chaconne bei den Bruchsaler Schlosskonzerten am 10.10.2008. Mit der jungen Künstlerin aus München kam internationaler Flair in den Kammermusiksaal des Bruchsaler Schlosses. Und mit der Chaconne von Bach ein Flair hoher Meisterschaft.

Die Einzigartige

Ganze 256 Take lang ist die Chaconne - für den Einzelsatz eines Solowerks eine monumentale, alle Dimensionen sprengende Länge. Kaum eine Musik ist so 'pur', stellt so große Anforderung an das Konzentrationsvermögen – und zwar an das von Spielern wie Zuhörern. Die Chaconne - das ist eine Welt für sich.

Dass die Solopartiten von Bach überhaupt wieder entdeckt wurden, ist der Musikergeneration um Robert Schumann und Johannes Brahms zu verdanken. Denn bis dahin waren diese Werke, die uns heute als die Meisterwerke für Violine gelten, völlig in Vergessenheit geraten. 1890 wurde Brahms, der ein begeisterter Sammler von Autographen war, eine Handschrift der Solopartiten zum Kauf angeboten. Brahms traute seinen Augen nicht und bezweifelte gar deren Echtheit, und heute befindet sich diese wundschöne und kostbare Handschrift im Besitz der Staatsbibliothek in Berlin. Auf dem Titelblatt steht "6 Sonaten ohne begleitenden Baß" und mit der Jahreszahl 1720 der Hinweis darauf, dass Bach sie nicht später als in diesem Jahr und damit in Köthen geschrieben haben muss. Genaueres aber lässt sich bis heute nicht herausfinden. Gegliedert sind die Sonaten abwechselnd in Sonaten und Partiten.

Der Komponist Johann Sebastian Bach auf einem Ölgemälde von Elias Gottlob Haußmann (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)
Johann Sebastian Bach

Als Robert Schumann die Werke sah, mutmaßte er, dass der solistischen Geigenstimme eine Begleitung fehle - und schrieb kurzerhand eine Klavierstimme dazu. Der Geiger Joseph Joachim, ein Freund von Schumann und Brahms, spielte erstmals nach Bachs Tod diese Solowerke wieder öffentlich. Als Virtuose erkannte er deren Wert, editierte sie in einer praktischen Neuausgabe, die aber erst posthum 1908 erscheinen konnte.

Die Chaconne ist der einzige Variationensatz in Bachs Kammermusik. Das mehrstimmig polyphone Spiel fordert Höchstleistung vom Interpreten. Das Spiel auf mehreren Saiten gleichzeitig war allerdings zu Bachs Zeit mit den historischen Bögen wesentlich einfacher. Bach 'verformte' in seinem Solostück ebenso großzügig wie fantasievoll ein uraltes Chaconnemodell. Sogar die Harmoniefolge variierte er, nur der Bass blieb mit festliegender Akkordfolge für den kompletten Satz als Basis gleich.

Arabella Steinbacher

Die Geigerin Arabella Steinmacher, 1981 in München geboren, zeigte schon als Kind eine so außergewöhnliche Begabung, dass sie mit neun Jahren als jüngste Studentin zu der gefragten Geigenpädagogin Ana Chumachenko an die Münchner Musikhochschule kam. Mehrere Preise und Auszeichnungen, unter anderem der Förderpreis des Freistaates Bayern und ein Stipendium der Anne-Sophie-Mutter-Stiftung, ebneten ihr den Weg zu einer Karriere, deren jüngster Höhepunkt die Verleihung des ECHO Klassik-Preises 2007 war, verbunden mit dem Titel "Nachwuchskünstlerin des Jahres".

Arabella Steinbacher hat ihre Karriere überlegt geplant und sich trotz ihrer 'marktgerechten' Wunderkindqualitäten ganz auf ihre musikalische Entwicklung konzentriert. Heute begeistert sie ihr Publikum mit souveränen Interpretationen, einem überwältigend schönen Ton und einem Repertoire, das von Bach bis ins 21. Jahrhundert reicht. Der internationale Durchbruch gelang Arabella Steinbacher im März 2004 in Paris mit einem Konzert des Orchestre Philharmonique de Radio France unter der Leitung von Sir Neville Marriner, bei dem sie als Solistin von Presse und Publikum stürmisch gefeiert wurde. Es folgten Einladungen zu Orchestern wie den Münchner Philharmonikern, dem DSO Berlin, den Wiener Symphonikern, dem Chicago Symphony Orchestra, dem London Philharmonic und vielen anderen bedeutenden Orchestern unter berühmten Dirigenten. Auch in diesem Jahr ist ihr Terminkalender angefüllt mit Auftritten auf den wichtigsten Konzertpodien; Sir Colin Davis, Christoph von Dohnányi und Herbert Blomstedt sind nur einige der Dirigenten, mit denen sie zusammenarbeitet. Unter anderem war sie die Solistin des Eröffnungskonzerts des diesjährigen Schleswig Holstein Musikfestivals, das vom Fernsehen live übertragen wurde. Außerdem stehen ihre Debüts beim Philharmonia Orchestra, beim Pittsburgh Symphony Orchestra und beim Orchestre de l’Opéra National de Paris bevor.

Von kluger Repertoireplanung zeugen die bisherigen CD-Einspielungen der jungen Geigerin, für die sie bereits zweimal den "Vierteljahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik" erhielt, nämlich für eine CD mit Werken von Darius Milhaud und für eine weitere mit den beiden Violinkonzerten von Dmitrij Schostakowitsch.

Arabella Steinbacher spielt die "Booth"-Violine von Antonio Stradivari, Baujahr 1716, die ihr von der Nippon Music Foundation zur Verfügung gestellt wird. Von Anne-Sophie Mutter erhielt sie außerdem einen Geigenbogen des berühmten Bogenbauers Benoit Rolland.

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Kerstin Unseld