Musikstück der Woche mit dem vision string quartet

Erwin Schulhoff: Fünf Stücke für Streichquartett

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AUTOR/IN
Katharina Höhne

Erwin Schulhoff gehörte lange Zeit zu den vergessenen Komponisten. Niemand kannte seinen Namen, geschweige denn seine Werke. Dabei war der gebürtige Tscheche ein Visionär seiner Zeit, der sich quer durch alle Genres und Strömungen bewegte, um Musik zu schreiben, die dem 20. Jahrhundert gerecht werden sollten. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges wurde Schulhoff gefangen genommen und in ein Konzentrationslager deportiert.

Er starb, doch seine Musik blieb und gehört heute – knapp 70 Jahre später – zu den wichtigsten Werken der Moderne. Im Oktober 2015 hat das erfolgreiche junge vision string quartet Schulhoffs „Fünf Stücke für Streichquartett“ im Stadthaus in Ulm auf die Bühne gebracht.

Ein Patriot im falschen Land

Erwin Schulhoff war ein begeisterter Anhänger des Kommunismus‘. Er schrieb zahlreiche Kampflieder und vertonte 1932 das Manifest der Kommunistischen Partei. Er beantragte sogar die sowjetische Staatsbürgerschaft, doch als man sie ihm 1941 mit den dazugehörigen Einreisepapieren in die Hände drückte, überfiel die deutsche Wehrmacht das Land. Schulhoff war einer der ersten, der gefangen genommen wurde. Als neuer Bürger der Sowjetunion gehörte er nun zum Feindstaat. Doch damit nicht genug: Auch seine jüdische Herkunft sowie seine Musik, die in Deutschland als „entartet“ gelabelt wurde, hatten ihn ins Visier der Nationalsozialisten geholt.

Ein Visionär der Zeit

„Schulhoff ist der Zeitgemäße. Vielleicht der Modemusiker von heute. Ein amüsanter, liebenswürdiger, witziger, spielerisch veranlagter, hochbegabter Künstler. Und ein wilder Temperamentsmusikant, ein Draufgeher. Kein Philosoph“, beschrieb ihn sein befreundeter Journalist Erwin Steinhard. Schulhoff interessierte sich für alles, was damals modern war: Expressionismus, Dadaismus und ganz besonders Jazz. Er war einer der ersten, der alles miteinander verband, und damit ein hörbares Kaleidoskop des beginnenden 20. Jahrhunderts komponierte.

Schon als Kind kam Schulhoff ans Prager Konservatorium. Er studierte in Wien, Leipzig, Freiburg und Köln, und reiste als Jugendlicher klavierspielend durch Europa. Er nahm Kompositionsunterricht, lebte als freischaffender Musiker in Berlin und Dresden und kehrte 1924 nach Prag zurück, um Konzerte zu veranstalten, in denen die Musik der Avantgarde zu hören war. 

Ein Tänzer ohne Zeitgefühl

Schulhoff liebte das Leben, ganz besonders das der Nacht. Stundenlang tanzte er sich durch die Clubs. Kurz vor seiner Rückkehr nach Prag verlieh er dieser Leidenschaft einen hörbaren Ausdruck und komponierte die „Fünf Stücke für Streichquartett“, eine Folge kurzer Tanzsätze. Er griff darin die verschiedenen Formen der Tanzmusik auf und experimentierte mit ihnen nach allen Regeln der Kunst. Die Uraufführung fand im Rahmen des Festivals der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Salzburg statt, am 8. August 1924. Obwohl die Kritik mit Sätzen wie „niedliche Tanzbagatellen“ verhalten blieb, gelang Schulhoff damit der Durchbruch. 

vision string quartet 

Jakob Encke und Daniel Stoll (Violinen), Sander Stuart (Viola) und Leonard Disselhorst (Violoncello) sind Grenzgänger. Fernab aller Konventionen gehen sie als vision string quartet seit 2012 neue Wege in der Musik. Ganz selbstverständlich bewegen sie sich auf der Schnittstelle von Klassik, Jazz, Pop, Rock und Funk, sodass neben der klassischen Streichquartett-Literatur auch Eigenkompositionen, (Crossover-) Bearbeitungen und Improvisationen zu ihrem Programm gehören. 

Ob solistisch oder als Ensemble – in den letzten Jahren haben die vier jungen Musiker zahlreiche Studien-, Konzert- und Wettbewerbserfahrungen gesammelt. Denn die Bühne ist ihr Spielraum. Hier gibt es keine Notenpulte oder Stühle. Mit der Musik im Kopf bewegen sie sich frei durch den Raum. 

Als vision string quartet touren die Vier mittlerweile durch ganz Europa. Neben klassischen Konzerträumen und Konzertreihen, wie dem Gewandhaus Leipzig oder dem Rheingau Musik Festival, öffnen sie sich besonders gern innovativen Konzertformaten. Sie arbeiteten bereits mit dem Bundesjugendballett unter John Neumeier zusammen, wirkten bei der Klanginstallation des 360 Grad Streichquartett-Festes der Festspielen Mecklenburg-Vorpommern mit und waren mit einem eigenen Format für Familien beim Podium Festival Esslingen und in der Philharmonie Luxembourg zu Gast. 2016 gewann das vision string quartet beim Concours de Genève den 1. Preis. Und damit nicht genug: Das junge Streichquartett aus Berlin errang auch alle vier Sonderpreise des internationalen Wettbewerbs. Sowohl Jury als auch Publikum waren sich einig, in den vier jungen Musikern ein aus der Gattung Streichquartett herausragendes junges Ensembles zu sehen. 

Seit 2015 wird das vision string quartet drei Jahre lang als „SWR2 New Talent“ begleitet und gefördert. 

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Katharina Höhne