Musikstück der Woche vom 26.4.-3.5.2010

Papierflieger über den Wellen

Stand
AUTOR/IN
Antonia Bruns

"La Mer" provoziert nicht nur das Publikum

Claude Debussys "La Mer" ist Impressionismus pur – und zwar in Form dreier sinfonischer Skizzen. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR brachte am 24. April 2009 unter der Leitung von Krzysztof Urbanski das Meeresrauschen und die Brandung in die Stuttgarter Liederhalle.

Kein Meeresrauschen?

Die Musiker des Orchesters Colonne sind Anfang des 20. Jahrhunderts völlig irritiert. Sie proben gerade zum ersten Mal das Stück "La Mer", das sie in Kürze mit Claude Debussy am Dirigentenpult aufführen sollen. Doch mit den neuartigen Klängen können sie gar nichts anfangen. Einer der Musiker faltet schließlich aus seinen Noten einen Papierflieger und lässt ihn über die Köpfe der Kontrabassisten und Celli hinweg quer übers Podium segeln. Die anderen lachen. Wenig später durchkreuzt eine ganze Papierfliegerflotte die Luft.

Nicht nur die Musiker des Colonne-Orchesters reagierten damals zurückhaltend auf Claude Debussys sinfonische Dichtung. Auch das Pariser Konzertpublikum, das die Uraufführung am 15. Oktober 1905 miterlebte, verließ den Saal enttäuscht. Da war ja gar kein Meeresrauschen zu hören! Stimmt – Programmmusik mit illustrativer Tonmalerei war auch nicht Debussys Absicht. Er wollte vielmehr den Charakter des Meeres einfangen: die ungestüme Leidenschaft der Brandung, die salzige Seeluft, die ewig wiederkehrenden Wellen.

Rückblende: Debussy begann 1903, an "La Mer" zu arbeiten. Eine Legende, die sich hartnäckig hält, besagt, Debussy habe das Werk bei einem langen Spaziergang am Atlantik konzipiert. So schön und passend 'impressionistisch' diese Geschichte auch wäre, sie stimmt nicht. Claude Debussy schrieb die ersten Ansätze zu "La Mer" nämlich während eines Aufenthalts in Burgund. "Sie werden einwenden, dass der Ozean nicht gerade die burgundischen Hügel umspült...!", schreibt Debussy an einen Freund, "aber ich habe unzählige Erinnerungen; meiner Ansicht nach ist das mehr wert als eine Wirklichkeit, deren Zauber die Phantasie gewöhnlich zu stark belastet."

Mit dem Komponieren ließ sich Debussy Zeit. Er schrieb keinen Takt, zu dem er sich nicht "gedrängt fühlte". Darum vollendete er "La Mer" erst zwei Jahre später, 1905 in Eastbourne. "La Mer, trois esquisses symphoniques pour orchestre" nannte er das fertige Stück – "Das Meer, drei symphonische Skizzen für Orchester". Obwohl es sich genauso genommen gar nicht um "Esquisses", also "Skizzen" handelt, sondern um ein bis ins kleinste Detail durchdachtes und ausgearbeitetes dreisätziges Werk.

Der erste Satz "Morgengrauen bis Mittag auf dem Meer" beginnt mit einem geheimnisvollen Orgelpunkt. Leise setzt sich ein fanfarenartiges Motiv auf den Klangteppich. Genau so unberechenbar wie das "Spiel der Wellen" ist auch die Musik im zweiten Satz. Motivische Gebilde fluten hinein und gehen wieder, es herrscht ein scheinbar unendliches Auf und Ab der Klänge. Im dritten Satz beschreibt Debussy den "Dialog zwischen Wind und Meer" durch verschiedene Wind- und Wellenmotive. Das Stück schließt turbulent mit einem dröhnenden Paukenschlag.

Heute ist "La Mer" eines der meistgespielten Stücke Debussys im Konzertsaal. Und mittlerweile segeln bei Orchesterproben auch keine Papierflieger mehr durch die Luft.

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR

Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR (Foto: SWR, SWR -)
Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR

Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR spielt jährlich rund 90 Konzerte im Sendegebiet des Südwestrundfunks, in den nationalen und internationalen Musikzentren und bei bedeutenden Musikfestspielen. Ein herausragender Höhepunkt in der Geschichte des RSO Stuttgart war das Konzert zum 80. Geburtstag von Papst Benedikt XVI. im Vatikan, das im April 2007 weltweit live übertragen wurde.

Das Orchester pflegt das klassisch-romantische Repertoire in exemplarischen Interpretationen und setzt sich mit Nachdruck für zeitgenössische Musik und selten aufgeführte Komponisten und Werke ein. Bis heute hat es mehr als 500 Werke uraufgeführt.

Viele namhafte Dirigentenpersönlichkeiten haben das RSO in den letzten 60 Jahren geprägt, unter Ihnen Sergiu Celibidache, Carl Schuricht, Sir Georg Solti, Giuseppe Sinopoli, Carlos Kleiber, Sir Neville Marriner, Georges Prêtre und Herbert Blomstedt. Ebenso konzertieren regelmäßig hochkarätige Solisten aller Generationen beim RSO.

Krzysztof Urbanski

Krzysztof Urbanski ist eines der interessantesten Dirigententalente der vergangenen Jahre. 2007 absolvierte er sein Studium an der Musikakademie "Fryderyk Chopin" in Warschau, im selben Jahr gewann er den Ersten Preis des Internationalen Dirigentenwettbewerbs während der Musikfestspiele "Prager Frühling". Krzysztof Urbanski arbeitet regelmäßig mit bedeutenden polnischen Orchestern. Ab Herbst 2010 wird er das Chefdirigat des "Trondheim Symfoniorkester" übernehmen.

Stand
AUTOR/IN
Antonia Bruns