Musikstück der Woche von und mit Benyamin Nuss

Benyamin Nuss: Préludes für Klavier, op. 1

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AUTOR/IN
Felix Werthschulte

Freiheit im Inneren | Musikstück der Woche vom 04.09.2017

Schon in der Antike war es üblich, große Theaterstücke nicht einfach nur aufzuführen, sondern mit einer stimmungsvollen Einleitung zu versehen. Auch in der Musik hat sich das Präludium seit langem etabliert. Wie inspirierend die Gattung heute noch ist, beweist der junge deutsche Pianist Benyamin Nuss, der selbst einen Zyklus aus fünf aphoristischen Préludes komponiert hat. Der Mitschnitt mit dem komponierenden Pianisten Nuss entstand im Februar 2014 auf Schloss Waldthausen bei Mainz.

1735 ärgert sich ein Vorgesetzter im thüringischen Mühlhausen über den jungen Organisten Johann Gottfried Bernhard Bach: "Kann gewissenshalber nicht verhalten, daß Herr Bach junior bisher allzuviel und allzu lange präludieret, mithin dadurch die zur Andacht und Gottesdienst bestimmte Zeit über die Gewähr verkürzt."

Über das ungezügelte Musizieren des dritten Sohns von Johann Sebastian Bach schreibt sich der Kirchenmann richtig in Rage. "Denn die Stunde, da bloß georgelt oder vielmehr gespielet wird, kann nicht gesungen noch gepredigt werden, welches doch der christlichen Versammlung Haupt und Zweck ist und sein soll." 

Wichtig? Unwichtig?

Diese Anekdote zeigt: Schon im 18. Jahrhundert beginnt das "Präludieren", das mit Tasteninstrumenten seit Anbeginn verbunden ist und ja eigentlich etwas Vorläufiges sein soll, in verstärktem Maße, die Zeit an sich zu reißen. Das Präludium wird als Gattung selbstständig, und derjenige, der es spielt, beweist Selbstbewusstsein – offenkundig nicht immer zum Gefallen derer, die zuhören. Zwar  kombiniert Johann Sebastian Bach seine Präludien noch häufig mit Fugen, doch adelt er die Gattung damit gleichzeitig als erst zu nehmende Kompositionsform.

Zu präludieren heißt schon damals, sich Gehör zu verschaffen. Seit der Epoche der ersten großen romantischen Klaviervirtuosen emanzipiert sich das Prélude (wie es im modischen Französisch nun gern tituliert wird) zu einer beliebten Gattung. Chopin, Liszt, Franck, Debussy und Skrjabin widmen sich ihr mit großer Leidenschaft. Sie alle inspiriert die lange, auf Bach verweisende Geschichte des Präludiums – vor allem aber die ihr innewohnende Möglichkeit zu grenzenloser Freiheit. Als Gershwin, Martinu und Strawinsky im 20. Jahrhundert Stücke und Zyklen dieser Art schreiben, steht deshalb nicht von ungefähr der Jazz Pate. 

Verinnerlichung und Kontemplation

Benyamin Nuss, der sich musikalisch sowohl in der Klassik wie auch im Jazz zuhause fühlt, knüpft mit seinen Préludes op. 1 an diese Tradition an. Wie frühere romantische und moderne Präludien stehen auch sie für sich, bereiten nichts Konkretes vor, sondern bilden eine Art Gefäß für künstlerische Inspiration. Die mit der Gattung verbundene Freiheit sucht Nuss weniger in offen zur Schau gestellter Virtuosität, vielmehr geht es ihm um Verinnerlichung und Kontemplation. Impressionistische Klangwolken à la Debussy verbinden sich mit atonalen Strukturen, Jazz- und Popharmonien. Das kann zaghaft und vorsichtig klingen (wie im ersten und zu Beginn des zweiten Préludes), im Dreiertakt traumwandeln und sich schnell intensiv steigern (Prélude Nr. 3) oder, wie im vierten Stück, beständig um einen kurzen Einfall kreisen. Der Zyklus schließt mit einem perlend beginnenden, sich zeitweilig wüst auftürmenden Klangfarbenspiel.

Bei alledem entsteht manchmal der Eindruck, als wären diese Préludes gerade erst aus dem Stegreif entstanden; so schillernd verschwimmen die Grenzen zwischen Komposition und Improvisation, Ernst und Unterhaltung. Wie einst Johann Gottfried Bernhard Bach "allzuviel und allzu lange präludieret" zu haben, wird man Benyamin Nuss kaum vorwerfen können: Jedes seiner Préludes ist nach wenigen Minuten schon wieder verklungen. 

Benyamin Nuss (Pianist)

Schon mit zehn Jahren war Benyamin Nuss fasziniert von der Musik Claude Debussys. Während er Stücke aus dessen "Children’s Corner" spielte hörte er sich immer mehr in die Klangfarben und Harmonien des Impressionismus hinein, bis er die Romantik für sich entdeckte und in Sergej Rachmaninow, Franz Liszt und Frederic Chopin seine heutigen Lieblingskomponisten fand.

1989 in Bergisch-Gladbach geboren, fing Benyamin Nuss mit sechs Jahren an Klavier zu spielen. Umgeben von einem Vater, der als professioneller Posaunist arbeitet und einem Onkel, der als Pianist durch die Welt reist, wuchs er nicht nur in einer musikalischen Familie auf sondern wurde bereits früh sowohl mit der klassischen Musik als auch Jazzmusik vertraut gemacht. Es folgten Preise bei (inter-)nationalen Wettbewerb wie "Jugend Musiziert" oder dem "Prix d’amadeo de piano" (2006), bevor er 2008 als Student an die Musikhochschule Köln ging.

Benyamin Nuss lebt seine Leidenschaft zur Musik – von Köln bis Tokio saß er bereits auf den Bühnen großer Konzerthäuser wie der Berliner Philharmonie, spielte als Solist mit renommierten Orchestern wie dem London Symphony Orchestra oder tourte mit diversen Jazzbands durch die Welt. Seit 2010 ist er exklusiv bei dem renommierten Label Deutsche Grammophon unter Vertrag. Sein Debütalbum "Nuss plays Uematsu", die Videospielmusik in einen klassischen Kontext setzt, schaffte es direkt in die Charts und lockte etwa 10000 Leute zum Teil erstmals in den Konzertsaal.

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Felix Werthschulte