SWR2 Musikstück der Woche 19.10.-25.10.2009

Seelenlust

Stand
AUTOR/IN
Doris Blaich

Johann Sebastian Bach: Kantate "Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust" BWV 170

Schöner kann man die Scheußlichkeiten der Welt nicht zum Klingen bringen: Die Altistin Bernarda Fink und das Freiburger Barockorchester sind die Musiker unseres "Musikstücks der Woche". Unser Konzertmitschnitt stammt vom April 2008 aus dem Konzerthaus Freiburg.

"Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust!" Der verschnörkelte Titel dieser Kantate deutet es schon an: Hier hat man es mit bildhafter, emphatischer Barocksprache zu tun, mit einer Rhetorik, die den Hörer erschüttern und aufrütteln will. Es ist eine Predigt in Versform, die sich auf eine Passage aus der Bergpredigt bezieht (Matthäus 5, 20-26): Dort verlangt Jesus von seinen Jüngern eine Menschenliebe und Achtung vor dem Nächsten, die weit über die bloße Gesetzestreue der Pharisäer und Schriftgelehrten hinausgeht. Der Darmstädter Hofpoet Georg Christian Lehms hat den Kantatentext 1711 in seinem "Gottgefälligen Kirchen-Opffer" veröffentlicht. Er stellt darin das "Sündenhaus" der Welt, in dem Hass, Neid und Feindschaft regieren, einem "Himmelszion" gegenüber, in dem die Seele bei Christus Ruhe und Geborgenheit finden kann.

15 Jahre später setzte Johann Sebastian Bach die Worte in Musik. Die Kantate erklang erstmals am 28. Juli 1726, dem 6. Sonntag nach Trinitatis (Dreifaltigkeitsfest). Sie ist Bachs erste Solokantate für den Leipziger Gottesdienst: Ein Alt singt sämtliche Arien und Rezitative; und es gibt weder einen Eingangschor noch einen Schlusschoral mit mehrstimmigem Chorsatz. Auch die Besetzung des Orchesters ist überschaubar: Streicher, eine solistisch hervortretende Orgel und als weiteres Soloinstrument eine Oboe d'amore, die etwas dunkler klingt als die herkömmliche Oboe und deren Name von dem birnenförmigen Schallstück, dem Liebesfuß, herrührt. Für eine Wiederaufführung nahm Bach zwei Traversflöten hinzu, die teilweise den Part der Orgel übernehmen.

Vom Idyll ins Jammertal - und wieder zurück

Im Eingangssatz zeichnet Bach ein musikalisches Idyll: gleichmäßig pulsierende Tonwiederholungen und eine abwärtsschreitende Bassfigur bilden das Fundament für die weit schwingende Melodik der Singstimme - so klingt Seelenruhe!

Das folgende Rezitativ ist nur mit Basso continuo begleitet. Es malt in plastisch-schroffem Vokabular und ebenso eindringlicher Musiksprache die Gräßlichkeiten des Weltgetümmels aus. In der Arie "Wie jammern mich doch die verkehrten Herzen, die dir, mein Gott, so sehr zuwider sein" schweigt hingegen der instrumentale Bass. In der Barockzeit ist die Bass-Stimme das Fundament und der Anker jeder Musik. Wenn sie wegfällt, dann müssen wir als Hörer aufhorchen. Die Komponisten bringen damit meist zum Ausdruck, dass der feste Boden unter den Füßen weggerutscht ist, dass die Welt gefährlich ins Wanken gerät. Bach intensiviert den Affekt der Klage und der Abscheu, die im Text artikuliert werden, mit musikalischen Mitteln: jammernde Seufzerfiguren, dissonante Akkorde und labyrinthische Modulationen in Tonarten, die weit vom Ursprung entfernt sind.

Die Schlussarie ist ein beinahe jubelnder Gesang auf die Abkehr von der Welt, auf die Sehnsucht nach Himmelsruhe und die Freuden des Jenseits. "Mir ekelt, mehr zu leben", heißt es im Text; die Musik reagiert auf diesen Ekel mit einem ungesanglichen Tritonus-Sprung in der Singstimme (gleich zu Beginn) und deutet schließlich mit einer aufwärtsstrebenden Tonleiter an, wo die ersehnte Seelenruhe zu finden ist. Als Hörer dieser wunderbaren Musik möchte man aber gerne noch ein bisschen hienieden verweilen...

Bernarda Fink

Als Kind slowenischer Eltern in Buenos Aires geboren, erhielt Bernarda Fink ihre Gesangs- und Musikausbildung am Instituto Superior de Arte del Teatro Colón, an dem sie auch regelmäßig auftrat.

Ihr Repertoire reicht vom Barock bis ins 20. Jahrhundert, und sie konzertierte mit den großen Orchestern und Dirigenten der Welt – von London bis Prag, von Cleveland bis Philadelphia. Als Liedsängerin gastiert Bernarda Fink in den Musikzentren Europas wie im Musikverein und Konzerthaus Wien, bei der Schubertiade Schwarzenberg, im Amsterdamer Concertgebouw und der Londoner Wigmore Hall. Sie war außerdem im Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, im Théâtre des Champs-Elysées in Paris und in der New Yorker Carnegie Hall zu hören, um nur einige ihrer Konzertstätten zu nennen.

Das umfangreiche Bühnen- und Konzertrepertoire der Künstlerin ist durch eine Diskografie dokumentiert, die schon fast die 50er Marke erreicht und sich von Monteverdi, Händel, Bach über Rameau, Hasse, Haydn bis hin zu Schubert, Rossini, Bruckner und Schumann erstreckt. Viele ihrer Platten wurden mit namhaften Preisen wie dem Diapason d’Or oder einem Grammy ausgezeichnet, darunter befinden sich Händels Oper "Giulio Cesare", Antonio Caldaras Oratorium "Maddalena ai piedi di Cristo", Bachs "Matthäuspassion" unter Nikolaus Harnoncourt, Glucks "Orfeo" und Scarlattis "Griselda" mit René Jacobs, Verdis Requiem und Ravels "Shéhérazade". Im Februar 2006 wurde Bernarda Fink durch den österreichischen Bundeskanzler mit dem Österreichischen Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet.

Freiburger Barockorchester

Der Barock spielt für das FBO auch im zwanzigsten Jahr seines Bestehens eine besondere Rolle. Zwar haben sich die "Freiburger" inzwischen ebenso einen Namen als kompetente Interpreten klassischer, romantischer und sogar zeitgenössischer Musik gemacht, doch repräsentiert das "Barock" im Namen des Orchesters mehr als nur eine Epochenbezeichnung: Es steht für die aufführungspraktische Perspektive der Musiker und für ihren Spaß am Musikantischen, an einem kultivierten und zugleich virtuosen Ensemblespiel. Mit diesem musikalischen Selbstverständnis hat das  Freiburger Barockorchester die bekanntesten Konzertsäle der Welt erobert. Aus der barocken Perspektive klingt gerade die Musik des 18. und 19. Jahrhunderts jung und modern und keineswegs nach Alter Musik, sondern so unmittelbar, als wäre die Tinte auf den Notenblättern noch feucht.

Die herausragende Stellung des Freiburger Barockorchesters im internationalen Musikleben äußert sich sowohl in der kontinuierlichen Zusammenarbeit mit bedeutenden Künstlern wie Andreas Staier, Thomas Quasthoff, Cecilia Bartoli und René Jacobs, als auch in einer engen Kooperation mit dem französischen Label harmonia mundi France und findet ihren erfolgreichen Niederschlag in zahlreichen CD-Produktionen und prominenten Auszeichnungen. So erhielt das FBO erst kürzlich zweimal den angesehenen Edison Classical Music Award 2008 für die Einspielung von Händels "Messiah" (Chormusik) und von Mozarts "Don Giovanni" (Oper).

Unter der künstlerischen Leitung seiner beiden Konzertmeister Gottfried von der Goltz und Petra Müllejans oder unter der Stabführung ausgewählter Dirigenten präsentiert sich das FBO mit rund einhundert Auftritten pro Jahr in unterschiedlichen Besetzungen vom Kammer- bis zum Opernorchester: ein selbstverwaltetes Ensemble mit eigenen Abonnementkonzerten im Freiburger Konzerthaus, in der Stuttgarter Liederhalle und der Berliner Philharmonie und mit Tourneen in der ganzen Welt.

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Doris Blaich