Musikstück der Woche vom 29.03.-04.04.2010

Rückkehr zum Religiösen

Stand
AUTOR/IN
Felix Werthschulte
Doris Blaich

Francis Poulenc: Quatre motets pour un temps de pénitence

In jungen Jahren war Francis Poulenc ein Lebemann, der die Pariser Konzertsäle unsicher machte. Ein Todesfall führte ihn dann Mitte der dreißiger Jahre zur intensiven Beschäftigung mit dem christlichen Glauben. Poulencs „Quatre motets pour un temps de pénitence“ (Vier Motetten für eine Zeit der Buße) sind unser Musikstück der Woche; gesungen vom SWR Vokalensemble Stuttgart unter Marcus Creed. Die Aufnahme entstand im März 2004 in der Stuttgarter Villa Berg.

Eleganter Salon oder schmucklose Kirche? Der junge Komponist Francis Poulenc würde bei dieser Frage keinen Augenblick zögern, keinen Gedanken an eine harte Kirchenbank verschwenden – geschweige denn an die Themen, die man an diesem Ort vorfindet. Paris entdeckt Poulencs musikalisches Talent, als er Anfang zwanzig ist. Er wird einer der kreativsten Köpfe der avantgardistischen Künstlergruppe „Groupe des Six“. Hier überrascht er immer wieder mit gewagten, manchmal provokanten Stücken, schreibt viele Auftragswerke. Bei manchen gilt er als berühmt, bei manchen als berüchtigt. In jedem Fall aber ist er erfolgreich.

Ein Autounfall verändert alles. Poulencs Freund, der Schriftsteller Pierre-Octave Ferroud, kommt dabei ums Leben. Poulenc ist tief getroffen in diesem Sommer im Jahr 1936. Er entscheidet sich zu einer Pilgerreise in den südfranzösischen Wallfahrtsort Rocamadour. Dessen berühmte Marienstatue, die „schwarze Madonna“, zieht seit dem Mittelalter Scharen von Pilgern an, die die Heilkräfte der Madonna auf sich wirken lassen wollen. Für Poulenc ist es der entscheidende Wendepunkt. Plötzlich entdeckt er in sich jenes Bedürfnis nach Spiritualität, das auch schon sein Vater kannte. „Rocamadour“, schreibt er später, „führte mich zurück zum Glauben meiner Kindheit. Dieser heilige Ort hatte alles, um mich in den Bann zu ziehen.“

Düster und gottesfürchtig

Das hat auch Folgen für Poulencs Musiksprache: Er komponiert jetzt nicht weniger expressiv als vorher, aber mit einem wesentlich spirituelleren Zugang. Die „Quatre motets pour un temps de pénitence“ gehören zu Poulencs ersten Werken nach dem einschneidenden Erlebnis, 1938/39 sind sie entstanden. Er beschäftigt sich darin erstmals mit der musikalischen Gattung der Mottete, deren hehre Tradition Jahrhunderte zurückreicht und die seit jeher mit besonderer Kunstfertigkeit verbunden ist. Poulenc kennt die Tradition. Er „borgt“ sich sogar von Orlando di Lasso die Textvorlage des ersten Stücks. Wie diese stammen auch die drei weiteren Texte aus der Liturgie der Karwoche, handeln vom Leiden und Sterben Christi. Es sind düstere, gottesfürchtige Texte, mitunter voller Verzweiflung.

Die Musik steht ganz im Sinne des Textes. Poulenc hat natürlich die Kunst Lassos und Bachs im Ohr, aber auch die modernere französische Musik eines Gabriel Fauré oder eines Claude Debussy. Doch er findet zu einem ganz eigenen Stil, der etwas Schwebendes, in sich Kreisendes und Hochkonzentriertes hat: vertraut und gleichzeitig modern, zusammenhängend wie ein musikalischer Teppich, der aus vielen bunten Fasern gewoben ist. Für Poulenc ist diese Art von Musik direkter Ausdruck seines Glaubens und damit seiner Selbstbestimmung. „Ich bin katholisch“, schreibt er einmal, „und das ist meine größte Freiheit.“

SWR Vokalensemble Stuttgart

Probe auf der Empore im Beethovensaal (Foto: SWR, SWR - Jacques Lévesque)
Mitglieder des SWR Vokalensembles Stuttgart bei der Probe auf der Empore im Beethovensaal

Die Geschichte des SWR Vokalensembles Stuttgart spiegelt in einzigartiger Weise die Kompositionsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts wieder. Auf Beschluss der Alliierten und im Zuge von Demokratisierungsmaßnahmen wurden 1946 Rundfunkanstalten und Ensembles gegründet, darunter auch der damalige Südfunkchor. Ihm kam die Aufgabe zu, das Schallarchiv mit Musik aller Arten und für jegliche Anlässe zu versorgen. Mit dem Dirigenten Hermann Joseph Dahmen, der den Chor von 1951 bis 1975 leitete, begann die Zeit der allmählichen Spezialisierung auf Neue Musik. Von 1953 an vergab der Chor regelmäßig Kompositionsaufträge.

Zu internationaler Reputation als Ensemble für Neue Musik gelangte das SWR Vokalensemble mit seinen späteren Chefdirigenten Marinus Voorberg, Klaus-Martin Ziegler und mit Rupert Huber. Schon Voorberg, insbesondere aber Huber formte den typischen Klang des SWR Vokalensembles, geprägt von schlanker, gerader Stimmgebung. Viele der mehr als 200 Uraufführungen, die in der Chronik des SWR Vokalensembles verzeichnet sind, hat er dirigiert. Auf diesem Niveau konnte Marcus Creed aufbauen, als er 2003 die Position des Chefdirigenten übernahm. Dem Ensemble ging zu diesem Zeitpunkt bei Fachpresse und Publikum längst der Ruf voraus, in konstruktiver Offenheit mit den Schwierigkeiten zeitgenössischer Partituren umzugehen.

In seinen ersten Stuttgarter Jahren legte Creed, der als einer der profiliertesten Dirigenten internationaler Profichöre gilt, seine Arbeitsschwerpunkte deshalb auf das Vokalwerk von György Ligeti, Luigi Dallapiccola und Luigi Nono. Darüber hinaus setzte er die Reihe der Uraufführungen fort. Intensiviert wurde vor allem die Zusammenarbeit mit Georges Aperghis, Heinz Holliger und György Kurtág. Die Studioproduktion des SWR Vokalensembles Stuttgart erscheinen zu einem großen Teil auf CD und werden regelmäßig mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Preis der Deutschen Schallplattenkritik, der Grand Prix du Disque und der Midem Classical Award.

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Felix Werthschulte
Doris Blaich