Musikstück der Woche vom 30.01.2017

Antonio Bertali: Chiaconna für Geige und Continuo

Stand
AUTOR/IN
Doris Blaich

Aus der Versuchsküche der Musikgeschichte

Eine Achterbahnfahrt für die Geige, komponiert vom kaiserlichen Hofkapellmeister Antonio Bertali, absolut schwindelfrei gespielt von Amandine Beyer und ihrem Ensemble "Gli Incogniti" in einem Bruchsaler Schlosskonzert des SWR vom 09.12.2012.

Ein wildes Laboratorium

Das 17. Jahrhundert ist die Versuchsküche der Musikgeschichte. Nie zuvor gab es eine solche Fülle an musikalischen Experimenten: Kompositorische Ideen werden ausprobiert, weiterentwickelt, verfeinert und oft auch wieder verworfen. Altes und Neues stehen unvermittelt nebeneinander. Wenn den Komponisten danach ist, ignorieren sie lustvoll die strengen, altehrwürdigen Kompositionsregeln und setzen der Tradition Neues, im besten Sinne Ver-rücktes, entgegen. Man kann diese Versuchsküche chaotisch nennen – wild, bunt und unübersichtlich. Denn die Vielfalt der Formen und Gattungen ist in dieser Zeit fast unermesslich reich – erst gegen Ende des Jahrhunderts bilden sich wieder festere Formen und Gattungsstrukturen heraus: Arie, Konzert, Sonate – Arcangelo Corelli spielt hier als kluger Ordner und Sortierer eine wichtige Rolle, später dann Antonio Vivaldi. Erst im 20. Jahrhundert ergeben sich wieder ähnliche kompositorische Freiheiten, wie sie das 17. Jahrhundert kennt und genießt.

Die Instrumente lernen Singen

Die Geburt der Oper um 1600 ist das alles prägende musikalische Ereignis der Zeit – und hat natürlich auch Auswirkungen auf die Instrumentalmusik: Die Instrumente lernen das Singen und das Sprechen, und sie erforschen neue Gebiete des musikalischen Ausdrucks. Plötzlich wird die Musik zum Spiegel der menschlichen Affekte, auch wenn sie nicht an einen Text gebunden ist. Gleichzeitig erforschen die Komponisten mit großer Entdeckerfreude die spieltechnischen Möglichkeiten der Instrumente. Virtuosität wird jetzt ein großes Thema: auf der Geige nutzt man das Spiel in den höheren Lagen, probiert Doppelgriffe und Akkorde aus, experimentiert mit neuen Bogentechniken.

Italia: Madre della musica

Italien ist das Geburtsland dieser neuen musikalischen Ideen; von hier aus gelangen sie ins restliche Europa. Bei diesem „Kulturtransfer“ spielt der Wiener Kaiserhof eine bedeutende Rolle: Die Habsburger wissen, dass Musik ein vorzügliches Mittel ist, um sich selbst und ihren Herrschaftsanspruch angemessen zu präsentieren. Die Kaiser und ihre Gattinnen sind große Musikkenner und zum Teil selbst beachtliche Komponisten. Die Wiener Hofkapelle ist im 17. Jahrhundert die größte – und vielleicht auch beste – in ganz Europa. Vor allem italienische Musiker wirken hier: als Kapellmeister, als Sänger und Instrumentalisten. Auch in Innsbruck, wo die Erzherzöge der Tiroler Linie der Habsburger residieren, will man sich im Glanz der hehren Kultur sonnen und eifert dem Vorbild Wiens nach. Zwischen den beiden Höfen besteht eine fruchtbare Konkurrenz - die wiederum die anderen europäischen Höfe zur Nachahmung anstachelt.

Bertalis Chiaccona

Antonio Bertali (1605-1669) stammt aus Verona. Als junger Mann fand er eine Anstellung am Wiener Kaiserhof, wo er 1649 zum Hofkapellmeister aufstieg. Wenige Jahre später erhob ihn Kaiser Ferdinand III. – selbst ein respektabler Komponist und ein vorzüglicher Musikkenner – in den Adelsstand. Aus der riesigen Fülle von Bertalis Kompositionen – Opern, Oratorien, Kantaten, Instrumentalwerke und liturgische Musik für unterschiedlichste Anlässe – ist nur ein Teil erhalten. Schade, denn Bertali ist einer der innovativsten und interessantesten Komponisten seiner Zeit, mit einem untrüglichen Gespür für Effekte – sowohl feine als auch theatralische, für Experimente auf dem Gebiet der Harmonik und der musikalischen Form.

Die Chiaconna für Geige und Basso continuo (der Titel ist in verschiedenen Schreibweisen überliefert, damals spielte der Duden noch keine Rolle) gehört heute zu den Lieblingsstücken der Alte-Musik-Ensembles. Die Geigenstimme ist eine wilde geigerische Achterbahnfahrt über dem Fundament des ostinaten Ciaconna-Basses: ein ausgelassener Tanz im Dreiertakt mit beinahe jazzigen Synkopen-Rhythmen.

Gli Incogniti

„Gli Incogniti“ heißt „Die Unbekannten“ – für das Ensemble, das die Geigerin Amandine Beyer im Jahr 2006 gegründet hat, eine glatte Untertreibung! „Die Unbekannten“ sind nämlich längst dem Geheimtipp-Stadium entwachsen. Sie sind gern gesehener Gast bei den wichtigen Festivals für Kammermusik und Alte Musik und ihre CDs ernten regelmäßig begeisterte Rezensionen von der internationalen Fachpresse. Dennoch verrät der Name etwas vom Geist dieses Ensembles: er bezieht sich auf die „Accademia degli Incogniti“, einem Zirkel von Gelehrten, Musikern und Kunstfreunden im barocken Venedig, die gemeinsam musizierten, diskutierten, dichteten – und jeder Art von Kultur aufgeschlossen waren. Das Ensemble möchte zudem musikalisch den Geschmack des Unbekannten ergründen: mit der Wiederentdeckung von Stücken, die lange im Archiv geschlummert haben, mit einer Aufgeschlossenheit für die klanglichen Möglichkeiten der alten Instrumente, mit Experimentierlust und Schwung.

Die Ensembleleiterin Amandine Beyer spielt Geige, seit sie vier Jahre alt ist. Mit 15 begann sie ihr Studium am Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris. Dort machte sie mit einer Arbeit über den zeitgenössischen Komponisten Karlheinz Stockhausen auch ihren Master in Musikwissenschaft. Das Studium der Barockvioline führte sie zu Chiara Banchini an die Schola Cantorum Basiliensis. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen würdigten ihre künstlerische Arbeit – unter anderem der erste Preis beim Antonio Vivaldi Wettbewerb für Barockvioline in Turin 2001. Seit 2010 lehrt Amandine Beyer Barockvioline in Basel.

Im Ensemble „Gli Incogniti“ hat sich Amandine Beyer mit befreundeten Musikern zusammengetan, die sich musikalisch auf einer ähnlichen Wellenlänge bewegen. Die Größe des Ensembles ist flexibel – je nach Besetzung der Werke. In diesem Bruchsaler Schlosskonzert spielen neben Amandine Beyer die Cembalistin Anna Fontana, der Gambist Baldomero Barciela und der Lautenist Francesco Romano.

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Doris Blaich