Musikstück der Woche mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Franz Schubert: Sinfonie h-Moll D 759

Stand
AUTOR/IN
Katharina Höhne

Unvollendet? Das Musikstück der Woche vom 20.2.2017

Wutentbrannt zerrissen, strategisch zurückgehalten oder einfach unvollendet? Es gibt kaum ein Stück über das sich die Musikwelt mehr den Kopf zerbricht als Franz Schuberts Sinfonie h-Moll. Seit Jahrzehnten zerlegen Musikwissenschaftlerinnen und Musiktheoretiker ihre Manuskripte in Einzelteile und scheitern doch nur wieder, wenn sie versuchen herauszubekommen, warum die „Unvollendete“ nach nur wenigen Takten des dritten Satzes abbricht. Im Juli 2016 hat das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der künstlerischen Leitung von Francois-Xavier Roth Schuberts rätselhafte Sinfonie im Konzerthaus in Freiburg gespielt – das Musikstück dieser Woche.

Dem eigenen Talent misstraut

Franz Schubert war ein Wunderkind. Aber keins, dass wie Wolfgang Amadeus Mozart, im Rampenlicht stand, sondern eins, dass sich im Schatten großer Vorbilder wie Ludwig van Beethoven versteckte. Schubert war der Introvertierte; der, der zu bescheiden war, um sich anderen zu präsentieren. Dabei träumte er durchaus von der großen Karriere, von den ausverkauften Konzerthäusern und Zeitungen, auf deren Titelblätter sein Name stand. Und obwohl er, wie er sagte, für nichts anderes geboren sei, als die Musik, misstraute er seinem Talent und hielt viele seiner Stücke zurück. „[Denn] wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?“ 

Schon als Jugendlicher hatte Schubert sechs Sinfonien zu Papier gebracht. Doch keine von ihnen hatte es bisher an die Öffentlichkeit geschafft. Schubert wollte sich ganz sicher sein. Aber je länger er wartete, desto unsicherer wurde er und als er anfing mit der „Unvollendeten“ seine vermutlich siebente Sinfonie zu schreiben, empfand er die sechs vorangegangenen als nicht mehr vorzeigereif. 

Wo das Rätsel beginnt…

Anselm Hüttenbrenner (Foto: IMAGO, imago/Leemage -)
Anselm Hüttenbrenner

Die Sinfonie h-Moll entstand im Herbst 1822. Sie war als Geste der Dankbarkeit gedacht und richtete sich an den Steiermärkischen Musikverein in Graz. Dieser hatte Schubert auf die Empfehlung von Anselm Hüttenbrenner zum Ehrenmitglied ernannt. Hüttenbrenner war damals Vorstandsmitglied des Vereins und ein guter Freund von Schubert. Er nahm die Sinfonie stellvertretend entgegen und genau hier beginnt das Rätselraten um die „Unvollendete“… Hüttenbrenner bewahrte sie 40 Jahre lang unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf. Erst 1865 wurde der österreichische Dirigent Johann von Herbeck auf das Werk aufmerksam und initiierte seine Uraufführung. Vom Publikum frenetisch gefeiert, fand selbst der sonst so kritische Journalist Eduard Hanslick nur positive Worte: „Wenn nach den paar einleitenden Tacten Clarinetten und Oboe einstimmig ihren süßen Gesang über dem ruhigen Gemurmel der Geigen anstimmen, da kennt auch jedes Kind den Componisten, und der halbunterdrückte Ausruf ‚Schubert!’ summt flüsternd durch den Saal. Er ist noch kaum eingetreten, aber es ist, als kennte man ihn am Tritt, an seiner Art, die Thürklinke zu öffnen.“

Bereits vor gut 150 Jahren erklang Schuberts Sinfonie h-Moll unvollendet: die Sätze eins und zwei sowie die ersten neun Takte des dritten Satzes. Trotzdem ist nicht klar, ob Schubert sie tatsächlich unvollendet ließ. 1986 fand man im Archiv des Wiener Männergesangsvereins weitere Takte des dritten Satzes. Dazu existiert neben dem Manuskript eine Partitur mit fertig gedrucktem Titelblatt. Was also ist damit passiert? 

  • Vermutung 1: Schubert hat die Sätze drei und vier selbst vernichtet. Schließlich war er sein stärkster Kritiker und empfand sie vielleicht als nicht gut genug. 
  • Vermutung 2: Schubert ließ sie absichtlich unvollendet. Im Zeitalter der Romantik versprühte das Unvollkommene einen enormen Reiz. 
  • Vermutung 3: Es gab einen Streit zwischen Schubert und Hüttenbrenner, bei dem die Noten zerrissen wurden. Das würde auch erklären, warum Hüttenbrenner die Sinfonie so lange bei sich geheim hielt. 

Keine Lösung, dafür aber viel Musik

Notenblatt von Schubert (Foto: IMAGO, imago/Westend61 -)
Notenblatt von Schubert

Das sind nur drei der unzähligen Spekulationen, warum Schuberts Sinfonie die „Unvollendete“ heißt und die damit etwas sehr Wertvolles in den Schatten rücken: die Musik. Denn Schubert schuf mit den ersten beiden Sätzen meisterhafte Melodien, mit denen er sicher schon zu Lebzeiten auf den Titelblättern der Zeitungen gelandet wäre. Insbesondere der erste Satz baut eine Welt im Ohr auf, die weit über die Grenzen der Romantik hinaus geht. Vor Schubert wählte kein Komponist h-Moll als Grundtonart für seine Sinfonie aus. Die mit ihr oft assoziierte traurige Schwere löst er immer wieder auf oder lässt sie von leichten und tanzenden Melodien durchziehen. Schubert setzt damit eine Hommage an sich selbst: den ewigen Liedkomponisten. 

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Das Sinfonieorchester Baden-Baden Freiburg (Foto: SWR, SWR - Klaus Polkowski)
Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

Die Geschichte des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg reicht in das Jahr 1946 zurück. Sie ist geprägt von einem unkonventionellen Umgang mit der Tradition und dem mutigen Beschreiten neuer Wege. Regelmäßig arbeitet das Ensemble mit internationalen Dirigenten, Solisten und Komponisten zusammen und hat sich sowohl im In- als auch im Ausland als Spezialist für Neue Musik etabliert. Von 2011 bis 2016 war der gebürtige Pariser Francois-Xavier Roth Chefdirigent des Ensembles. Mit seiner besonderen Flexibilität, seiner Offenheit für Neues aber auch für das Ungewohnte im Gewohnten führt er die Erfolgsgeschichte des Orchesters fort. Im September 2016 wurde das Orchester mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR zusammengeschlossen zum SWR Symphonieorchester.

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Katharina Höhne