Musikstück der Woche vom 21.11.2016

Befreite Zeit

Stand
AUTOR/IN
Studierende des Studienfachs „Musikvermittlung“ an der Stuttgarter Musikhochschule und Doris Blaich

Franz Schubert: Streichquintett C-Dur D 956

Musik für die einsame Insel: Schuberts Streichquintett, eine seiner letzten Kompositionen. Unser Mitschnitt mit dem Pavel Haas Quartett und dem Cellisten Danjulo Ishizaka stammt vom Internationalen Bodenseefestival, das Konzert war am 14. Mai 2015 in der Klosterkirche Münsterlingen.

Schubert-Glück

"Franz Schubert ist seit Jahren eine der beglückendsten Erscheinungen für mich", schrieb der Komponist Ernst Krenek 1928 in einer Schubert-Umfrage, die die Vossische Zeitung zu Schuberts 100. Todestag veranstaltete. „Fülle der Phantasie, unerschöpflicher Reichtum menschlicher Gefühlsmöglichkeiten, untrügliche Sicherheit differenziertesten Ausdrucks, Frische, Lebendigkeit, unbeirrbares Formgefühl bei stärkster Ausdruckskraft, Klarheit und Präzision, bis zum letzten durchdachtes Raffinement im Vortrag, kurzum alles, was mir in der Kunst wert und wichtig erscheint, versuche ich von ihm zu lernen. Er ist eine jener seltenen Erscheinungen, um derentwillen man Gott danken kann, dass er die Welt erschaffen hat.“

Alles drin!

All das, wofür Krenek Schubert liebte, steckt in seinem Streichquintett, geschrieben im Herbst 1828, im Produktionsrausch seiner letzten Monate. Das Quintett gilt zurecht nicht nur als eines der bedeutendsten Werke Schuberts, sondern der Kammermusikliteratur überhaupt. Ungewöhnlich ist die Besetzung: die meisten Streichquintette (etwa Mozart und Beethoven) verdoppeln die Bratschen, Schubert entscheidet sich für zwei Celli. Eines davon übernimmt die Funktion des Fundaments, das andere klettert oft hoch hinauf in die Tenorlage, wo es die schönsten Melodien singen darf (besonders im wunderbaren zweiten Satz spürt man den begnadeten Liedkomponisten Schubert, wenn die beiden Celli gemeinsam in seligen Terzen schwelgen).

Die Länge sprengt den Rahmen des Üblichen

Die Anzahl der Sätze – vier – entspricht dem Üblichen, die Dimensionen dagegen – gut 50 Minuten – sprengen den Rahmen. Schuberts musikalische Themen entfalten eine starke Eigendynamik, bilden ganze Formteile und weiten sich zu großen Gesangsszenen aus. Im ersten Satz etwa gibt es nicht mehr nur zwei Themen, die einander gegenübertreten, sondern vielmehr Themengruppen, aus denen immer neue Gedanken entspringen. Wie in einer Keimzelle scheinen die Gegensätze der vier Sätze in den Eingangstakten konzentriert zu sein. Der lange gehaltene C-Dur-Akkord wächst zum Forte an und verwandelt sich sogleich in einen dissonanten Mollklang. Schon die ersten beiden Töne machen klar: hier gibt es keinen stabilen Boden, diese Musik lebt aus ihrer Zerbrechlichkeit. Sie sinkt ins Piano zurück und entfaltet eine jener typisch Schubertschen Sehnsuchtsmelodien: heiter-gesanglich und gleichzeitig tief traurig mit ihren schmerzvollen Seufzerfiguren.

Erst nach 30 Takten erreicht der erste Satz sein wahres Tempo, „zeitliche Rückungen“, oder „befreite Zeit“ nennt der Komponist Dieter Schnebel dieses Phänomen bei Schubert. Gerade im 1. Satz des Streichquintetts entwickelt sich die Musik nicht einfach entlang am Zeitfluss, sondern Schubert komponiert das Gefühl der Verlangsamung und Beschleunigung gleich mit. Das Tempo bleibt zwar immer gleich, aber die Notenwerte ändern sich und damit unsere Wahrnehmung. Ein Schweben, ein sich Lösen, formal, rhythmisch, harmonisch. „Ein tönendes Mysterium“ nennt Joachim Kaiser das Werk voller Ehrfurcht, „eines, das rätselhaft ist und vollendet“.

Durch die Windungen des Tonarten-Labyrinths

Wanderungen durch die Labyrinthe weitläufiger Tonartenlandschaften sind eine weitere Spezialität von Schubert. In seinen Liedern macht er davon ausgiebig Gebrauch, und oft erkennt man vor lauter Windungen nicht, dass man längst wieder in der Grundtonart angekommen ist. Im Finale des Quintetts sind zwei Themen gegenübergestellt, ein energisch-aufstampfendes und ein ländlerartig-beschwichtigendes. Das energische Thema ist so angelegt, dass man es praktisch endlos sequenzieren kann, das heißt in die nächst höhere Tonart versetzen. Schubert verwendet dazu einen harmonischen Trick, die sogenannte Teufelsmühle, ein altes Akkord-Modell aus der Barockzeit: Auf der Grundlage einer chromatischen Basslinie gelangt man damit auf kurzem Weg in denkbar weit entfernte Tonarten. Das Ländler-Thema erscheint dann jedes Mal auf einem noch höheren Hochplateau. Bis die Musik zuletzt wieder in die Ausgangstonart zurückkehrt ist – zunächst beinahe unbemerkt. Aber dann gibt es zum Abschluss doch noch eine kleine Feier in reinstem C-Dur.

Pavel Haas Quartett und Danjulo Ishizaka

Er war der „Ewige Kaiser“, und es blieb ihm nichts erspart - Franz Joseph I. und sein märchenblauer Uniformrock waren über ein halbes Jahrhundert lang die Inkarnation Kakaniens, wie Robert Musil das k.u.k.-Reich und seine morbide Fantasiewelt nannte. Das sind: Veronika Jarusková und Marek Zwiebel an den Geigen, Pavel Nikl an der Bratsche und Peter Jarusek am Cello. Die vier jungen Musiker stammen aus Tschechien. Als Namensgeber haben sie den tschechisch-jüdischen Komponisten Pavel Haas gewählt, einen Schüler von Leos Janáček, dessen Leben 1944 auf tragische Weise in den Gaskammern von Auschwitz endete. Gleich mit den ersten beiden CDs haben die vier das gesamte Streichquartettschaffen von Pavel Haas aufgenommen - und damit eine ganze Reihe von preisgekrönten Aufnahmen mit Musik aus Osteuropa eröffnet. Prag ist der Hauptwohnsitz des Pavel Haas Quartetts, von dort aus reist es seit 2005 auf die Konzertbühnen der Welt. Für dieses Konzert hat sich das Quartett mit dem deutsch-japanischen Cellisten Danjulo Ishizaka zusammengetan. Er zählt seit dem Gewinn des internationalen Musikwettbewerbs der ARD (2001) und des Grand Prix Emanuel Feuermann (2002) zu den herausragenden Cellisten seiner Generation.

 

 

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Studierende des Studienfachs „Musikvermittlung“ an der Stuttgarter Musikhochschule und Doris Blaich