Musikstück der Woche vom 20.06.2016

Formvollendete Borstigkeit

Stand
AUTOR/IN
Carolin Krahn

Sergej Prokofjew: Klaviersonate Nr. 7 B-Dur op. 83

Ironische Geschichte: 1936 kehrte Sergej Prokofjew in die Sowjetunion zurück, 1948 wurde er dort wegen formalistischer Tendenzen in seiner Musik verurteilt. Mit dem radikalen Aufführungs-Stopp seiner Kompositionen entfielen sämtliche Einnahmen. Dabei hatte man Prokofjew doch für seine siebte Klaviersonate in B-Dur op. 83 noch den Stalinpreis verliehen – für Musik, die alles andere ist als zahm. Die Pianistin Yulianna Avdeeva zeigte das am 13.12.2013 im Frankfurter Hof Mainz.

Linien(un)treue Musik…

Der russische Komponist Sergej Prokofjew (Foto: IMAGO, Imago - imago stock&people)
Der russische Komponist Sergej Prokofjew

Sergej Prokofjew vollendete insgesamt neun Klaviersonaten, seine zehnte skizzierte er noch und hatte längst eine elfte im Kopf, als er 1953 im Alter von gerade einmal 61 Jahren starb; am gleichen Tag wie Stalin, von der Öffentlichkeit fast unbeachtet im Schatten der Trauerfeier für den Diktator. Auch die ersten Entwürfe zu Prokofjews siebter Klaviersonate fallen in ein historisch folgenschweres Jahr: 1939 entstehen die Skizzen zu den drei Klaviersonaten Nr. 6, 7 und 8, jedoch beendet Prokofjew zunächst nur die sechste. Seine Sonate Nr. 7 op. 83 schließt er erst im Jahr 1942 ab, als er sich auf Einladung des Regisseurs Sergej Eisenstein im kasachischen Alma-Ata aufhält und endlich konzentriert daran arbeiten kann.

Zwischen Entwurf und Fertigstellung der Sonate liegen einschneidende Ereignisse: der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der sagenhafte Erfolg von Prokofjews Ballett Romeo und Julia und bald darauf die Arbeit am neusten Opernprojekt Die Verlobung im Kloster; 1941 dann Prokofjews Trennung von seiner ersten Frau Carolina und den zwei Söhnen, um mit Mira Mendelson zu leben. Eine Biographie voller Turbulenzen, politisch wie persönlich. Dass Prokofjew 1942 für seine siebte Klaviersonate mit dem Stalinpreis zweiter Klasse ausgezeichnet wurde, scheint der exzentrischen und zugleich filigranen Anlage dieser Sonate so gar nicht gerecht zu werden. Bereits Glenn Gould bemerkte, dass die Harmonik längst die Grenzen zur Atonalität berührte. Oder klingt so die Partitur eines nach außen leicht unterkühlt wirkenden Linientreuen?

…die an die Nerven geht

"Die Sonate versetzt uns sogleich in eine Welt, die ihr Gleichgewicht verloren hat. Es herrscht Unordnung und Ungewissheit. Todbringende Gewalten wüten vor den Augen der Menschen, für die dennoch das, was ihr Leben ausmacht, weiterbesteht. Der Mensch fühlt und liebt nach wie vor. Er existiert mit allen zusammen und protestiert mit allen zusammen, durchlebt bitter das Leid, das alle durchleben. Ein stürmischer, attackierender Lauf voller Willen zum Siege räumt alles auf seinem Weg beiseite, gewinnt an Gewalt in der Schlacht, erwächst zu gigantischer Kraft, lässt das Leben sich behaupten." Diese Worte fand Swjatoslaw Richter, der Pianist der Uraufführung am 18. Januar 1943 in Moskau, für Prokofjews siebte Klaviersonate.

Wenig anschaulicher hätte man wohl die Dimensionen umschreiben können, die in dieser Musik stecken; in ihrer komponierten Rastlosigkeit, insistierend, monumental und auch fragil in den feinsten Gliedern ihrer bewegten Außensätze, die den romantisierenden Mittelsatz einrahmen: (I) Allegro inquietto. Andante. Allegro inquietto – (II) Andante caloroso. Poco più. Più largamente. Un poco agitato. Andante caloroso – (III) Precipitato. Diese Satzbezeichnungen lassen sofort erahnen, wie sehr diese Musik an die Nerven geht.

Schon der erste Satz schwankt zwischen Quasi-Stillstand und perpetuum mobile, voll von gehauchten und dann plötzlich gedonnerten Akkord-Wiederholungen, gewürzt mit einer Prise Dissonanz. Im zweiten Satz dominieren schwebende Pendel-Klänge im Walzerrhythmus. So ausgeglichen die Musik anfangs und auch gegen Ende wieder innezuhalten scheint, brodelt es doch heftig im Zwischenraum von parallel geführten Ober- und Unterstimmen. Der dritte und letzte Satz ist eine aufrüttelnde Toccata, die mit synkopischen Einwürfen an die unablässige Motorik des ersten Satzes anknüpft. Grummelnde Bässe drängen in die Höhe und bringen schließlich die gesamte Klaviatur in Aufruhr – und über allem schwebt B-Dur. Prokofjew schrieb eine rastlose Sonate, die durch Mark und Bein geht. Bis zum Schluss steht immer wieder marcato, détaché und non legato in den Noten. Da vibriert das Klavier bis in seine Ecken und Windungen, in formvollendeter Borstigkeit.

Yulianna Avdeeva (Klavier)

Der Gewinn des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2010 machte Yulianna Avdeeva zu einer der gefragtesten Chopin-Interpretinnen der Gegenwart. Klavier spielt sie schon seit dem Alter von fünf Jahren, worauf der Besuch der Gnessin Hochbegabten-Musikschule in Moskau folgte. Nach Studien bei Elena Ivanova wurde die Pianistin von Vladimir Tropp und Konstantin Scherbakov unterrichtet; weitere Anregungen erhielt sie von Dmitri Bashkirov, William Grant Naboré und Fou Ts’ong.

Seither trat Yulianna Avdeeva mit vielen internationalen Orchestern auf, etwa dem Orchestre symphonique de Montréal, Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo, dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, London Philharmonic Orchestra oder dem Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia. Zudem war sie bei renommierten Festivals wie dem Rheingau Musik Festival und den Wiener Festwochen zu Gast. Neben ihrer solistischen Arbeit spielt die Pianistin Kammermusik mit der Kremerata Baltica und dem Philharmonia-Quartett der Berliner Philharmoniker. 2014 erschien Yulianna Avdeevas CD mit Musik von Chopin, Schubert und Prokofjew bei Mirare Productions.

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Carolin Krahn