Musikstück der Woche vom 13.06.2016

Krank und voller Leben

Stand
AUTOR/IN
Carolin Krahn

Bedřich Smetana: Streichquartett Nr. 2 d-Moll

Eine der wohl deprimierendsten gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Leben eines Musikers ist der Verlust des Hörsinns. Nicht nur Ludwig van Beethoven litt darunter und versuchte jahrelang vergeblich, die Krankheit zu kurieren. Auch Bedřich Smetana kämpfte in der letzten Dekade seines Lebens mit einer leidvollen Ertaubung. Doch von der Musik konnte ihn nichts abbringen. Ein Jahr vor seinem Tod 1884 vollendete Smetana das Streichquartett Nr. 2 in d-Moll. Am 15. Mai 2015 interpretierte es das Pavel Haas Quartet in der Klosterkirche Münsterlingen.

Die Leiden des komponierenden Smetana

Vor seiner Ertaubung konnte Smetana ein ausgesprochen breit gefächertes Berufsspektrum abdecken: Er war konzertierender Pianist, Musikschuldirektor, Chorleiter, Konzertorganisator, Musikkritiker und erfolgreicher Dirigent. Ab 1866 engagierte ihn das Prager Nationaltheater als Kapellmeister; ein Amt, das er allerdings aufgrund seines binnen weniger Monate rasend schnell voranschreitenden Gehörverlusts im Jahr 1874 niederlegen musste. Die ersten Anzeichen von Smetanas Leiden hatten sich schon früh während der Arbeit am sinfonischen Orchesterzyklus "Má vlast" (Mein Vaterland) bemerkbar gemacht. In dieser Kompositionsphase ertaubte Smetana vollständig.

Nicht nur die physischen und psychischen, auch die sozialen Folgen waren gravierend. Ohnehin war Smetanas Leben durch den frühen Tod seiner ersten Ehefrau, das Exil in Göteborg sowie gegen ihn gerichtete Hetzkampagnen und einiges mehr kein einfaches gewesen. Nun zog er sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück, zumal er von seinem Gehörverlust existentiell betroffen war: keine Auftritte als Pianist waren mehr möglich, keine Dirigate mit jenen großen Orchestern, für die seine Musik bestimmt war, und irgendwann nicht einmal mehr Konzertbesuche. Das, was Smetana blieb, war die Musik in seinem Kopf: beim Komponieren. Nationalbewusste Kreise haben diese Entwicklungen seit dem späten 19. Jahrhundert dazu veranlasst, Smetana als eine Art genialen Märtyrer der tschechischen Musikgeschichte zu stilisieren; und Smetana selbst, der zu flammenden Plädoyers für die tschechische Unabhängigkeit von der machtvollen Habsburgerdynastie neigte, trug einiges dazu bei.

Konsequenz der Brüchigkeit

Oft als Begründer der "tschechischen Nationalmusik" gefeiert, gilt Smetana zugleich als Komponist von Musik, die eng mit seiner Biographie verknüpft ist. Sein kammermusikalisches Œuvre ist jedoch schmal geblieben. Zu Berühmtheit gelangt sind neben dem Klaviertrio in g-Moll vor allem die Streichquartette in e-Moll mit dem Untertitel "aus meinem Leben" (1876) und in d-Moll (1883), ein weiteres ist verschollen. Wenngleich Streichquartett Nr. 2 bisweilen als "sprödes Spätwerk" in den Schatten seines Vorgängers gerät, ist es doch von großer Modernität und voll von individuell gestalteten, mosaikartig kombinierten Aphorismen, mit denen schon das 20. Jahrhundert anklingt.

Als Smetana den ersten Satz dieses zweiten Streichquartetts beendet hatte, empfand er Verlegenheit in Anbetracht des Entstandenen. So beschrieb er es in einem Brief vom 14. Juli 1882 an seinen Vertrauten, den tschechischen Musikpublizisten Josef Srb-Debrnov. Dort heißt es, die Musik sei schwer verständlich und zerrissen, sie bereite den Spielern sicher große Schwierigkeiten. Aus Smetanas Sicht war dies nur konsequent, denn er begriff seine Musik als authentisches Resultat ihrer Gesamtumstände: "Dies ist eine Folge des unglücklichen Lebens, das ich gezwungen bin, zu führen. Ich fühle mich müde, verschlafen und befürchte, langsam die Lebendigkeit der musikalischen Einfälle einzubüßen. Ich habe das Empfinden, daß alles, was ich jetzt im Gehirn musikalisch verarbeite, gleichsam von einem Nebel der Beklommenheit und des Schmerzes verdeckt ist."

Alles andere als nebulös klingt hingegen die Musik, über deren Entstehungskontext der Komponist so traurige Zeilen verfasste: Smetanas zweites Streichquartett fesselt durch seine musikalische Erlebnisdichte, wie sie sich in den vier Sätzen AllegroAllegro moderato/Andante cantabileAllegro non più moderato, ma agitato e con fuocoFinale: Presto ausbreitet. Ständige Wechsel von Tempo und Charakter, und nicht zuletzt das abrupt aussetzende Bratschensolo im zweiten Satz, betonen die Rastlosigkeit einer aus dem Gleichgewicht geratenen Komponistenseele: stürmisch, kantabel, melancholisch, kantig. Von zeitlupenartigem largamente über glänzendes maestoso bis zu aufwühlenden con fuoco-Passagen beweist diese Musik mit all ihren Brüchen: Wer von Krankheit gezeichnet ist, der kann noch immer voller Leben sein.

Pavel Haas Quartet

Seinen Namen verdankt das Pavel Haas Quartet dem tschechischen Komponisten Pavel Haas, der nach dreijähriger Gefangenschaft im Konzentrationslager Theresienstadt 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Im Gedenken an ihn formierte sich das Pavel Haas Quartet im Jahr 2002. Derzeit besteht das Ensemble aus den vier Musikern Veronika Jarůšková (Violine), Marek Zwiebel (Violine), Radim Sedmidubský (Viola) und Peter Jarůšek (Violoncello). In Prag ansässig, wurde Milan Škampa ihr Mentor, der Bratschist des berühmten Smetana-Quartett.

Nach dem Gewinn des Premio Paolo Borciani 2005 folgten spätestens mit der Nominierung als ECHO Rising Stars 2007 zahlreiche Konzerte des Pavel Haas Quartet auf den wichtigsten Bühnen der Welt. Dazu zählen die Tonhalle Zürich, der Münchner Herkulessaal, die Wigmore Hall, Councertgebouw Amsterdam und die Philharmonie Luxembourg sowie Auftritte bei den Festivals in Aldeburgh, Edinburgh, Verbier, Zeist und beim Prager Frühling. Außerdem gewann das Ensemble neben dem Diapason d’or (2010) allein fünf Mal den Gramophone Award für verschiedene Aufnahmen beim Label Supraphon. Zuletzt entstand ein Album mit Bedřich Smetanas Streichquartetten, das mit dem BBC Music Magazine Award ausgezeichnet wurde.

Stand
AUTOR/IN
Carolin Krahn