Musikstück der Woche vom 21.03.2016

Wer schreibt heute eigentlich noch Kammerkonzerte?

Stand
AUTOR/IN
Carolin Krahn

Harold Bedoya Agudelo: Konzert für Kammerorchester

Wer heute noch Kammerkonzerte schreibt? Harold Bedoya Agudelo zum Beispiel. Geboren in Kolumbien, landete er zum Studium in Mannheim; also in der Stadt, in der allerhand musikalische Raketen gezündet wurden, die schon Mozart für die Instrumentalmusik seiner Zeitgenossen entflammen ließen.

2013 kreuzten sich in Mannheim dann die Wege des jungen Komponisten Agudelo mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester. Aus dieser Begegnung entstand ein neues Konzert für Kammerorchester. Am 28. September 2014 erklang es im Rittersaal von Schloss Mannheim. Das Kurpfälzische Kammerorchester spielte unter der Leitung von Johannes Schlaefli.

Kultfaktor "Mannem"

In vielen musikalischen Enzyklopädien findet sich ein Sammelsurium von Begrifflichkeiten, die gern mit dem pulsierenden internationalen Kompositionszentrum Mannheim des 18. Jahrhunderts und vor allem mit allerlei kultigen Klangeffekten in Zusammenhang gebracht werden. Neben der Mannheimer Rakete gäbe es da zum Beispiel noch die Mannheimer Walze, das Mannheimer Vögelchen, den Mannheimer Seufzer, und überhaupt: Mannheimer Manieren! Die Liste ist lang, und der Hauptverantwortliche dafür heißt Hugo Riemann und war ein berühmter Musikwissenschaftler im 20. Jahrhundert.

Als Riemann 1914 den ersten von zwei Bänden mit – Überraschung – "Mannheimer Kammermusik des 18. Jahrhunderts" herausgab, grübelte er im Vorwort mal wieder über eines seiner Lieblingsthemen: "Eine Frage, die dem Herausgeber einiges Kopfzerbrechen verursachte, war die, wie weit der Begriff Mannheimer Kammermusik auszudehnen sei?" Seine Entscheidung fiel als eindeutiges Plädoyer aus. Denn was folgte, war eine lange Liste von Komponisten; weit über Johann Stamitz, Ignaz Holzbauer oder Franz Xaver Richter hinaus, ausgedehnt über die Grenzen der Sinfonie, jenseits der Stadt. Mannheim war mehr als ein Ort auf der Landkarte – Mannheim war nun wieder überall, und zwar durch Musik.

Ein Palimpsest in Musik

Zwischen Februar und Juni 2014 komponierte Harold Bedoya Agudelo sein Konzert im Auftrag des Kurpfälzischen Kammerorchesters. Dabei hatte er nicht nur die Geschichte rund um den Musikbegriff Mannheim im Hinterkopf, sondern auch einen konkreten urbanen Raum von historischem Gewicht: das barocke Schloss Mannheim. Im Rittersaal der ehemaligen Residenz des Kurfürsten hatte bereits die berühmte Hofkapelle unter dem kulturpolitisch weitsichtigen Fürsten Carl Theodor gespielt, und dies sollte in Agudelos Musik noch durchklingen. Der Komponist hat sich mit seinem Konzert in vier Sätzen peu à peu von der musikalischen Vergangenheit in die Gegenwart bewegt – Musik über Musik:

Den Beginn macht eine Art "Greatest Hits" von Mannheimer Klischees im Schnelldurchlauf des ersten Satzes, Enérgico. Darauf folgt mit dem zweiten Satz, Tranquillo, eine allmähliche, in größter Ruhe träumend voranschreitende Entfernung von der eng umrissenen musikalischen Klangvorstellung des Anfangs. Die vielen Anspielungen auf "Mannheimer Gesten" treten hier immer weiter in den akustischen Hintergrund, und doch wird die Musik dabei nie avantgardistisch. Der dritte Satz ist dann allerdings kein Menuett oder Scherzo nach herkömmlichem Rezept mehr, sondern eine lebhafte Anlehnung an Tanzformen aus Südamerika in drei Teilen: Fandango – Jaropo – Fandango. Am Ende des Konzerts steht ein fulminanter Schlusssatz, Decidido. Während man nun wieder den Anfang deutlich durchhören kann, wird die Musik doch immer weiter von Dissonanzen durchtränkt. Fast archaisch klingen dann die imitativen Passagen und die blockartigen Bläsereinsätze. So wird Mannheim zum klanglichen Palimpsest eines Komponisten unserer Zeit.

Harold Bedoya Agudelo (Komposition)

Als Harold Bedoya Agudelo noch in Kolumbien studierte, wo er 1988 geboren ist, riet ihm sein Lehrer eines Tages zum vertiefenden Studium an einer Musikhochschule in Deutschland. Gesagt, getan: Gelandet ist der junge Komponist an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim in der Kompositionsklasse von Sidney Corbett. Außerdem arbeitete er in diesem Rahmen mit Doris Geller, Wolfgang Müller-Steinbach und Dres Schiltknecht. Dem ersten Aufeinandertreffen mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester bei dem interkulturellen Begegnungsprojekt WIR! in Mannheim 2013 folgte alsbald ein Kompositionsauftrag zum Konzert für Kammerorchester, angeregt als Brückenschlag zur musikalischen Vergangenheit.

Das Kurpfälzische Kammerorchester

Als die Mannheimer Hofkapelle noch unter Leitung von Kurfürst Carl Theodor stand, war die Stadt ein Epizentrum der modernen Instrumentalmusik mit internationaler Ausstrahlung. Das Kurpfälzische Kammerorchester weiß das ganz genau und knüpft deshalb seit seiner Gründung 1952 mit frischem Wind an alte Klassiker an: Die Pflege der Orchesterliteratur aus dem Umfeld der "Mannheimer Schule" ist dem Ensemble eine Herzensangelegenheit.

Heute wird das Kurpfälzische Kammerorchester von Johannes Schlaefli geleitet und spielt Musik weit über die Metropolregion Rhein-Neckar hinaus. Das Repertoire reicht von Barock bis Moderne und erklingt bei Konzerten im In- und Ausland. Neben diversen Rundfunkaufnahmen vergibt das Kurpfälzische Kammerorchester Kompositionsaufträge, gastiert im Rahmen von Musikvermittlungsprogrammen in Schulen und produziert außerdem Editionen der Musik von bedeutenden Komponisten aus dem Mannheimer Umfeld. All das mit dem Ziel, Mannheims besondere Musikgeschichte fortwährend zum Klingen zu bringen.

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Carolin Krahn