Musikstück der Woche vom 15.6.2015

Wenn die Erinnerung verblasst

Stand
AUTOR/IN
Katharina Höhne

Eduard Tubin: Quartett für Violine, Viola, Violoncello und Klavier cis-Moll, ETW 59

Es sind die vergessenen Komponisten, die das Notos Quartett reizt. Werke, die bisher kaum oder selten gespielt wurden. "Es sind Schätze, die es unbedingt lohnt zu heben", sagt Pianistin Antonia Köster. Dazu gehört auch das Klavierquartett cis-Moll des estnischen Komponisten Eduard Tubin. Das junge Ensemble brachte es am 26. März 2013 im Schloss Waldthausen auf die Bühne, um etwas Vergessenes in Erinnerung zu rufen.

"Damit du mich nie vergisst…"

Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht Angst davor hätte, in Vergessenheit zu geraten. Angst davor, dass die unsichtbaren Fäden sich auflösen, die jahrelang zwischen einem selbst und anderen geknüpft waren, dass nichts mehr bleibt und auch die Erinnerung verblasst. 

Auch der estnische Komponist Eduard Tubin kannte dieses Gefühl. Bis heute gilt er als der bedeutendste Symphoniker Estlands, obwohl seine Werke lange Zeit von den Sowjets verboten waren. Tubin schrieb zehn Sinfonien, nur eine blieb unvollendet. Ihr Trumpf zum Erfolg war ihr Klang, durch den nicht nur Tubins außergewöhnliche Originalität und Kreativität zum Ausdruck kam, sondern auch seine Liebte zur Musik der Heimat. 

Vom Sammeln und Fiedeln

Eduard Tubin wuchs Anfang des 20. Jahrhundert auf, in einem kleinen Dorf am Westufer des Peipussees. Wenn er nicht wie so oft die Schweine seines Vaters hütete, streunte er durchs Dorf. An einem Tag entdeckte er einen Fiedler. Er hörte ihm stundenlang zu und lernte auf diese Weise zum ersten Mal die estnische Volksmusik kennen. Auch später, als Erwachsener, sammelte er leidenschaftlich gern die Lieder seiner Heimat, um sie wie Béla Bartók und Zoltán Kodály, die Tubin auf einer seiner Studienreisen durch Europa kennenlernten und die ihn stark prägten, in seinen Werken verarbeiten.

Tubin brachte sich alles selbst bei: Flöte, Balalalaika, Geige und Klavier. An eine Laufbahn als Musiker dachte er nicht, sondern wurde vorerst Lehrer. Erst später entschloss er sich zu einer Ausbildung in Komposition und wurde kurz darauf als Kapellmeister und Dirigent tätig. Es folgten erste eigene Werke. Als 1944 die Rote Armee ins Land einbrach, floh Tubin mit seiner Familie und ließ sich in Stockholm nieder. Nach dem Krieg arbeitete er als Chordirigent und Arrangeur am Theater, und fing erst in den 1960er Jahren wieder an, eigene Werke aufs Papier zu bringen. 

Tubin schrieb eigentlich alles: Ballette, Sonaten, Opern… und das einsätzige Klavierquartett cis-Moll, das jedoch aus der Erinnerung in die Vergessenheit verschwand. Schon die Überschrift "Lento, grave - Allegro energico" deutet Nachdenklichkeit und eine milde Trauer an. Bis heute gehört es zu den wohl unbekanntesten Werken von ihm, obwohl es mit seinem ungewöhnlich, zwischen Tradition und Moderne schillernden Ton so bedeutend ist.

Notos Quartett

Von "technischer Brillanz und Virtuosität" spricht die Kritik, von einem Musizieren, das sich durch "große Sensibilität, Einfühlungskraft und Temperament" auszeichnet und von einem "Ensemble mit schönsten Perspektiven". Seit acht Jahren begeistert das Notos Quartett – Sindri Lederer (Violine), Florian Streich (Cello), Antonia Köster (Klavier) und seit November 2014 Kyoungmin Park (Viola) – sowohl die Fachpresse als auch das Publikum. Denn neben Klassikern von Brahms, Schumann, Dvořák, Mozart und Fauré holt es regelmäßig unbekannte Klavierquartette vergessener Komponisten ins Programm. 

Nach einem Meisterkurs beim Mandelring Quartett folgten die ersten Wettbewerbe, bei denen sie u.a. 2011 den 1. Preis des Parkhouse Awards in London gewannen. Spätestens jetzt festigte sich das Ensemble zum professionellen Klavierquartett. Es folgten zahlreiche erste Preise und Sonderpreise in den Niederlanden, in Italien und zuletzt der 2. Preis beim "Osaka International Chamber Music Competition 2014" in Japan. Seitdem tourt das Ensemble quer durch Europa und spielt Konzerte in der Londoner Wigmore Hall, im Concertgebouw Amsterdam, dem Rheingau Musik Festival und dem Schleswig-Holstein Musikfestival sowie - auf Einladung des Goethe-Instituts - in Saigon, Hanoi, Jakarta, Phnom Penh, Yangon, Bangkok und Dhaka. 

Seit September 2014 unterrichtet das Notos Quartett im Rahmen eines Junior Fellowships am Royal Northern College of Music in Manchester Kammermusik und ist als musikalischer Botschafter der Hochschule tätig – eine große Ehre für die Musiker und ein Novum für ein ausländisches Ensemble.

Stand
AUTOR/IN
Katharina Höhne